"Erinnern Sie sich an das Jahr 1990?" Mit dieser Frage beginnt das Buch von Nick Reimer und Toralf Staud. Wer zumindest nicht mehr ganz jung ist, wird darauf sicherlich mit "Ja" antworten. Es war das Jahr der Wiedervereinigung, und man kann sich daran noch ziemlich gut erinnern, es fühlt sich noch ziemlich nah an. Das Verblüffende, so die beiden Autoren: Das Jahr 2050 ist heute bereits näher als 1990 - und trotzdem klingt es in unseren Ohren sehr weit weg, ein bisschen wie Science Fiction, als betreffe uns dieses Jahr nicht wirklich.

"Psychologische Distanz" nennen Fachleute das Phänomen. Und die Distanz wird bei einem Thema wie der Klimakrise dadurch verstärkt, dass sehr häufig über die Folgen für Eisbären geredet wird, für Südseeinseln oder für die ferne Zukunft. Man solle deshalb - so rät es auch unser Handbuch Klimakommunikation - viel mehr über konkrete und handgreifliche und möglichst naheliegende Folgen der Erderhitzung sprechen.

Das Buch Deutschland 2050 tut dies. Toralf Staud, langjähriger Redakteur von klimafakten.de, und Nick Reimer, Mitglied unseres freien Autor:innen-Teams, nehmen die Leserschaft auf knapp 380 Seiten mit zu einem Parforceritt: von Gesundheit und Artenvielfalt über Städtebau und Tourismus, bis hin zu Energieversorgung und Verkehrsnetze. Die Autoren sind dafür quer durch die Republik gereist: Nach Offenbach, wo im Erdgeschoss der Zentrale des Deutschen Wetterdienstes (DWD) ein Supercomputer Blicke in die Klimazukunft erlaubt. Zu BASF in Ludwigshafen, wo das Dürrejahr 2018 bereits ahnen ließ, vor welchen Herausforderungen die Industrie in einem heißeren Deutschland stehen wird. Zu den Buchen im Nationalpark Hainich in Thüringen, auf die Versuchsfelder des Zentrums für Agrarlandschaftsforschung im brandenburgischen Müncheberg.

Landstriche fast ohne alte Bäume und überhitzte Dachgeschosswohnungen

Ergebnisse der Klimaforschung, die es ja seit Jahren zuhauf gibt, werden in 14 Kapiteln heruntergebrochen ins Konkrete: So bedeute die Erderhitzung zum Beispiel das Ende des deutschen Waldes, wie wir ihn bisher kennen. Landstriche fast ohne alte Bäume dürften in einigen Jahrzehnten ziemlich normal sein, weil neue, angepasste Arten erst langsam nachwachsen. Fast die gesamte Landwirtschaft werde sich umstellen müssen: im Ackerbau brauche es neue Sorten, und die Hochleistungskühe litten ab 24 Grad Hitze­stress. Überträger gefährlicher Krankheiten wie die Tigermücke würden zur Gefahr, das Gesundheits­wesen müsse sich auf ungekannte Hitzewellen vorbereiten.

Auch unsere Städte passten nicht mehr zum künftigen Wetter: Dachgeschoss-Wohnungen würden in Deutschland 2050 viel weniger hip sein als heute – in den Sommern der Zukunft werde man sich vielmehr nach kühlen Erdgeschosswohnungen sehnen. Die exportabhängige deutsche Wirtschaft werde darunter leiden, dass Extremwetter immer häufiger den Nachschub von Zulieferern unterbrächen. Vor den künftigen Flüchtlings­zahlen könnten jene der Jahre 2015/16 fast idyllisch wirken. Und, und, und. Neuigkeiten zu all diesen Themen, zum Beispiel aus der Forschung, sollen laufend auf einem Twitter-Kanal zum Buch nachgeliefert werden.

"Klimaschutz bewahrt Heimat"

Diese Zukunft, schreiben die Autoren, sei nicht mehr zu verhindern - denn wegen der Trägheit des Klimasystems und der vielen bereits ausgestoßenen Treibhausgase sei bereits sicher, dass es in Deutschland 2050 rund zwei Grad heißer sein wird.

Auf die im Buch beschriebenen Folgen müsse sich die Gesellschaft deshalb dringend vorbereiten. Umso wichtiger sei, die Emissionen jetzt schleunigst zu senken - dann könne sich das Klima auf dem Niveau von 2050 stabiliseren. Andernfalls drohten noch viel stärkere und vor allem immer weitergehende Veränderungen. Klimaschutz, schreiben Staud und Reimer, "sichert unser Zuhause, unser Eigentum, unsere Städte. Oder noch kürzer: Klimaschutz bewahrt Heimat".

red