
Dass die Erderhitzung noch – wie eigentlich 2015 im Pariser Abkommen beschlossen – unter 1,5 Grad Celsius zu halten ist, gilt inzwischen als nahezu ausgeschlossen. Auch das Zwei-Grad-Limit rückt mit jedem Jahr näher. Ein Thema, das in der Klimaforschung lange Zeit als zwar spannend, aber von eher theoretischem Interesse galt, gewinnt daher an Dringlichkeit: die sogenannten Kipppunkte.
Unter dem Begriff versteht die naturwissenschaftliche Klimaforschung bestimmte Schwellen, an denen der graduelle Temperaturanstieg plötzliche Folgen hat: abrupte, meist unumkehrbare und sich oft auch noch selbst weiter antreibende Veränderungen. Weltweit gibt es im Erd- und Klimasystem etwa ein Dutzend solcher Kipppunkte: die tropischen Korallenriffe zum Beispiel, die ab ein bis zwei Grad allgemeiner Erwärmung so oft von Ozean-Hitzewellen getroffen werden, dass es zu ausgedehnten und anhaltenden Bleichen kommt, was die sensiblen Ökosysteme unwiderruflich absterben lässt. Der Eispanzer auf Grönland, dessen Schwund sich bei einem einmal angefangenen Abtauen von selbst weiter beschleunigt.
Wie über Kipppunkte sprechen, ohne das Publikum in Verwirrung, Abwehr oder Fatalismus zurückzulassen?
Weil die Welt bei etlichen dieser Elemente dem wahrscheinlichen Kipppunkt immer näher kommt, wird zunehmend darüber diskutiert. Doch bei genauer Betrachtung entpuppt sich der Stand der Forschung als unübersichtlich – und bisweilen wird in öffentlichen Debatten auch unzulässig zugespitzt. In einem gerade erschienenen Buch erklärt deshalb Klimafakten-Redakteur Toralf Staud gemeinsam mit seinem Co-Autoren Benjamin von Brackel, Wissenschaftsreporter der Süddeutschen Zeitung, was über die neun wichtigsten Kipppunkte im Erdsystem bekannt ist. Der Titel: Am Kipppunkt. Wo das Klima zu kollbieren droht – und wie wir uns noch retten können.
Daneben erzählt das Buch eine Detektivgeschichte, die im Juni 1897 in einer Tongrube nahe Kopenhagen begann – nämlich wie die Forscherinnen und Forscher überall auf der Welt Indizien dafür fanden, dass es abrupte Klimaänderungen gibt. Thema ist auch die bis heute andauernde Kontroverse in der Wissenschaftscommunity, was und wieviel man über diese Kipppunkte sagen kann – und wie man es tun sollte, damit beim Publikum nicht Verwirrung, Abwehr oder gar Fatalismus zurückbleibt.
Gibt es sogenannte positive Kipppunkte für mehr Klimaschutz – bei Technologien, in der Wirtschaft und vielleicht auch der Gesellschaft?
In drei Kapiteln widmet sich das Buch aber auch den sogenannten positiven Kipppunkten: Unter diesem Titel wird in der Wissenschaft nach Möglichkeiten gesucht, durch die sich Klimaschutz rasant beschleunigen und in ein vielleicht sogar exponenzielles Wachstum bringen lässt. Möglich ist dies offenbar bei verschiedenen Technologien; in der Gesellschaft hingegen ist es offenbar schwieriger, aber vielleicht ebenfalls möglich.
Der weltweite Boom der Photovoltaik jedenfalls ist ein mutmachendes Beispiel – entscheidend angeschoben wurde er durch das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der ersten rot-grünen Bundesregierung von 1999. Das entsprechende Kapitel sucht nach Lehren aus dieser Erfolgsgeschichte, mit denen sich ein steiles Wachstum auch bei anderen Technologien anstoßen ließe. Bei grünem Wasserstoff, soviel sei hier verraten, hat die Forschung einen solchen positiven Kipppunkt ausgemacht und weiß auch, wie er sich überschreiten ließe. Es kommt nur – wie so oft – darauf an, was die Politik aus den Studienergebnissen macht.
red