Peter North ist Professor für Alternative Ökonomien am Fachbereich Geographie und Planung der Universität Liverpool. Er lehrt und forscht vor allem zu solidarischen Ökonomien, über Klima- und Umweltbewegungen sowie über Strategie und Politik für Übergänge zu einer kohlenstoffarmen Gesellschaft, vor allem auf kommunaler Ebene. Unter anderem war er Mit-Herausgeber von "Towards Just and Sustainable Economies" (Policy Press 2017).

Der folgende Text ist ein leicht gekürzter Auszug aus: Mike Hulme (Hrsg.): Contemporary Climate Change Debates. A Student Primer. Routledge 2020. Wir danken Verlag, Herausgeber und Autoren für die Erlaubnis zum Nachdruck. Das Buch versammelt zugespitzte Pro&Contra-Beiträge zu aktuellen Klimadebatten.

Die Gegenposition vertritt Mike S. Schäfer (Universität Zürich)
in diesem Artikel

 

Bedenken über den sogenannten „Missbrauch“ neuer Informations- und Kommunikationstechnologien wie von Social Media  sind in unserem frühen 21. Jahrhundert weit verbreitet. Das gilt insbesondere für gestandene demokratische Gesellschaften, die der Meinungsfreiheit auf einem liberalen Marktplatz der Ideen einen hohen Wert einräumen. Viele dieser Ängste gleichen denen, wie sie regelmäßig bei der Einführung irgendeiner disruptiven, neuen Technologie auftauchen, denn die „Verlierer“ – in diesem Falle die kommerziellen Mainstream-Medien oder Politikerinnen und Politiker, die an Politikgestaltung in geschlossenen und kontrollierten Umgebungen gewöhnt sind – müssen mit den Neulingen umgehen. Einige dieser Bedenken tragen zu der Sorge bei, dass Social-Media-Plattformen für bösartige Zwecke genutzt werden könnten. Und einige resultieren aus der Verwechslung des Rechts aller Menschen auf ihre eigene Meinung – die frei ist – und des Rechts, sich seine eigenen Fakten zu konstruieren – das es nicht gibt. 

Bei dem Versuch, auf eine so große Herausforderung wie die Vermeidung des gefährlichen Klimawandels zu reagieren, oder bei der Anpassung an den nicht mehr abzuwendenden, bereits spürbaren Klimawandel, besteht die Sorge, dass diese neuen Sozialen Medien konstruktive Klimapolitik erschweren. Diese kann ein Ergebnis der Angst vor der Ausbreitung „schlechter“ oder „ungenauer“ Wissenschaft im Internet sein, die von sogenannten Klima“skeptikern“ produziert wird, die vielleicht in neoliberalen Think Tanks arbeiten, die wiederum von der Lobby der Fossilen Energiewirtschaft  unterstützt werden.

Dennoch widerpreche ich der Aussage, dass die neuen Sozialen Medien eine konstruktive Klimapolitik erschweren, und zwar aus vier Gründen: 1. Non-konformistische Meinungen gab es immer schon. 2. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden nicht unhinterfragt aus dem Labor heraus verbreitet. 3. Was man gegen den Klimawandel tun sollte, ist eine wertebasierte Diskussion, keine faktenbasierte, und 4. Sowohl Laienwissenschaftler, sogenannte citizen scientists, und Soziale Bewegungen können über Social Media konstruktiv die politische und strategische Debatte ergänzen.

1. Non-konformistisches Denken ist nicht neu

Zunächst einmal ist es falsch zu behaupten, Social Media würden das Verhältnis völlig verändern zwischen einerseits offiziellem „Eliten“-Wissen darüber, wie die Welt funktioniert, und andererseits Angriffen darauf. Seit es soziale Probleme gibt, haben Menschen Vorstellungen darüber geäußert, was falsch läuft und was sich wie ändern müsse. Um diese Veränderungen zu erreichen, haben sie etwas verwendet, was Bewegungsforscher als „Protest-Technologien“ bezeichnen – also Technologien, mit deren Hilfe oppositionelle Ideen entwickelt und in der Gesellschaft verbreitet werden.

Dazu gehören beispielsweise in geheimen oder unabhängigen Druckereien produzierte Graswurzel-Medien oder „Samisdat“-Untergrund-Zeitungen, Pamphlete und Flugblätter, aber auch Leserbriefe an Zeitungen oder Briefwechsel zwischen gleichgesinnten Einzelpersonen oder Gruppen, unabhängiger Journalismus, Verkündigungen (das eindrücklichste Beispiel ist hier vielleicht Martin Luther mit dem Anschlag seiner95 Thesen ans Tor der Schlosskirche zu Wittenberg ), Reden (auf der Straße, bei einer Kundgebung, im Parlament oder einer lokalen Behörde), und Predigten (in religiösen Umgebungen). Die hier in Rede stehenden Social Media sind schlicht die neueste Entwicklung in der Kommunikationstechnologie, so revolutionär wie die Druckerpresse, und sie ermöglichen die Verbreitung neuer Ideen. Aber sie sind nicht grundlegend neu, selbst wenn der Prozess heute schneller und allgegenwärtiger ist.

 

»Social Media öffnen die Auseinandersetzung über bestimmte Themen für mehr Menschen, sie demokratisieren die Diskussion über Politik und politischen Wandel und befähigen die Nutzerinnen und Nutzern. Und das gratis. Diese Medien sind eine willkommene Facette einer jeden offenen Gesellschaft.«

 

Neue Ideen werden manchmal von Eliten abgelehnt. Galileo wurde eingesperrt, weil er behauptete, dass der Planet Erde sich um die Sonne drehe; Darwin wurde verlacht, als er eine Evolution auf der Basis natürlicher Selektion beschrieb. Manchmal sind diese neuen Ideen hilfreich, manchmal verleihen sie gerechtfertigten Bedenken Ausdruck, und manchmal haben sie Schaden angerichtet, zum Beispiel Unruhenoder Pogrome ausgelöst. Sie können sich wie ein Lauffeuer ausbreiten und große Veränderungen lostreten (zum Beispiel die Abschaffung der Sklaverei, die Verwirklichung von Bürgerrrechten), während andere Ideen weiter verhöhnt werden oder zwar viele Unterstützer mobilisieren, aber dennoch Mühe haben, den gewünschten Wandel zu erreichen (wie etwa die Friedens bewegung).

Social Media bieten die neuesten Kommunikationswerkzeuge, durch die kritische Ideen aufkommen, diskutiert, weiterentwickelt und verbreitet werden. Sie öffnen die Auseinandersetzung über bestimmte Themen für mehr Menschen, demokratisieren die Diskussion über Politik und politischen Wandel und befähigen die Nutzerinnen und Nutzern, die Schöpfer und Verbreiter ihrer eigenen Botschaften zu sein und diese schneller bekannt zu machen. Und all das ist gratis. Diese Medien sind eine unabdingbare und willkommene Facette einer jeden offenen Gesellschaft.

2. Was ist gute Klimawissenschaft – und wer macht sie?

Bedenken über das Ausmaß, in dem die sogenannten Sozialen Medien konstruktive Klimapolitik schwieriger machen, verkennen die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Es gibt einen Unterschied zwischen der Frage, wie und durch wen Wissenschaft entsteht und wie in der Folge wissenschaftliche Erkenntnisse angenommen oder abgelehnt werden. Wissenschaft ist nicht eine Reihe von „Fakten“ über die Welt „da draußen“, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – und nur diese, vorzugsweise weiß gekleidet und in schönen, sauberen Laboren arbeitend – „entdecken“ und die „wahr“ sind, und die dann alle anderen unkritisch als wahr akzeptieren.

Eine Gesellschaft produziert, prüft und akzeptiert sissenschaftliche Erkenntnisse (oder tut es auch nicht) in mehreren Schritten – die Forschung im Labor ist nur einer davon. Für und gegen welche Experimente entscheidet man sich? Was betrachtet man als „Daten“, die gesammelt werden sollen, und was bleibt unbeachtet? Für oder gegen welche Methoden und experimentellen Techniken entscheidet man sich? Was sind die ethischen Standards? Welche Verfahren werden genutzt, und wie belastbar und intensiv oder extensiv sind die Methoden? Wie werden Daten interpretiert und aufbereitet? Schließlich: Wo publizirt man seine Erkenntnisse? Im Internet, in Blogs, in Fachzeitschriften mit einem Peer Review, mit offenem Zugang oder nicht? Wie funktionieren die Peer-Review-Verfahren? Diese Fragen, und die Antworten darauf, zeigen, dass wissenschaftliches Wissen von der Gesellschaft produziert und nicht einfach so „entdeckt“ wird (Latour, 2004).

Social Media vor mehr als hundert Jahren - Stammgäste im Wiener Kaffeehaus Dobner 1909; Quelle: Wikimedia Commons/Atelier Moderne/PD

Klimaforschung findet zu oft in einer undurchsichtigen „Black Box“ statt, ohne Zugang von Nicht-Wissenschaftlern. Bisweilen geben sich Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verschlossen, wollen „ihre“ Daten ungern teilen. Kritiker dieser Praxis – und zunehmend auch Forschungsförderungseinrichtungen – vertreten dagegen die Position, dass alles, was mit Steuergeldern finanziert wurde (auch die Daten selbst), öffentlich verfügbar sein sollten. Wissenschaftler, die das von der Gesellschaft finanzierte Wissen nicht teilen, können dafür zurecht in Social Media kritisiert werden, so unangenehm das für sie sein mag. Das kann dazu führen, dass Klimawissen besser verstanden und von mehr Leuten genutzt wird.

Es gibt eine Reihe gesellschaftlicher Prozesse, durch die wissenschaftliche Erkenntnisse über den Klimawandel produziert, gelesen, akzeptiert oder abgelehnt werden, durch die sie in den Medien Zugkraft entfalten oder unter den Tisch fallen, durch die sie übliche Vorstellungen davon stützen oder infragestellen, was eine angemessene Klimapolitik ist und was nicht. Diese Prozesse werden durch kulturelle Konventionen wie auch durch die Interessen einflussreicher Personen und Gruppen beeinflusst. Die Produktion wissenschaftlichen Wissens lässt jedenfalls sich nicht von der Welt trennen, die dessen Aufnahme interpretiert. In diesem Prozess wird geklärt, was verlässliche Wissenschaft ist und was nicht, wer sie produziert und warum. Social Media können diesen Prozess öffnen, indem sie eine breitere demokratische Debatte fördern. Neue Informationstechnologien unterstützen also die Diskussion darüber, was „schlechte“ Wissenschaft ist (etwa auf schlechten Daten basierende, unzureichend analysierte und schlecht kommunizierte Wissenschaft) und was nicht – und ermöglichen es, Einwände gegen eine illegitime oder ideologische Nutzung dieses Wissens vernehmbar zu äußern.

 

»Social Media können die Diskussion über wissenschaftliche Qualität fördern – und ermöglichen es, Einwände gegen eine illegitime oder ideologische Nutzung von Forschungserkenntnissen vernehmbar zu äußern.«

 

Das ist gut. Aber es handelt sich um ein öffentliches Gut, bei dem aufpassen muss, dass etablierte Medien nicht den Äußerungen  parteiischer klima“skeptischer“ Gruppen, die fragwürdige Fakten auf Social Media verbreiten, genauso viel Gewicht geben wie der wohlabgeworgenen , von Experten begutachteter Wissenschaft, für die zum Beispiel der Weltklimarat IPCC steht. Es war gut, dass einst radikale Kritiker die damals akzeptierte Weisheit ins Wanken brachten, dass die Sonne um die Erde kreist. Aber es ist etwas anderes, offen zu sein für radikale Wissenschaftskritik und die normativen Grenzen von Wissenschafts anzuerkennen – oder alle möglichen Behauptungen zu glauben und gelten zu lassen. Einige religiöse Fundamentalisten glauben noch immer, Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen. Andere behaupten, die Erde sei eine Scheibe. Die Wissenschaft würde dem widersprechen. In diesem Falle können wir uns vermutlich schnell darauf einigen, dass die Forschung recht hat. Fühlen Sie sich frei zu glauben, die Erde sei flach – aber sie sollten auf dieser Basis keinen Transatlantikflug buchen.

Vielleicht lautet der Mittelweg anzuerkennen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur in Laboren von Forschungseinrichtungen arbeiten. Laienwissenschaftler, sogenannte citizen scientists, können per Smartphone, Fotografie oder persönlichen Tagebüchern eigene Daten generieren und eigene Interpretationen öffentlich verfügbarer Daten produzieren. Sie können ihre Daten und Einschätzungen über Wikis und offene  Software mit anderen teilen. Diese Menschen können damit einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, was „gute“ Wissenschaft ist und was nicht, sie schaffen eigenes verlässliches Wissen, entweder unabhängig von oder gemeinsam mit traditionellen Forschungseinrichtungen. An dieser Stelle haben Social Media einen unschätzbaren Nutzen.

3. Was tun gegen den Klimawandel?

Wissenschaftlich ist die Lage klar: Die Erde erhitzt sich. Doch die Wissenschaft allein kann uns nicht sagen, was wir dagegen tun sollten (Hulme, 2009). Sie sagt uns nicht, ob wir unsere eigene Fähigkeit, Veränderungen zu bewirken, optimistisch oder pessimistisch einschätzen sollten. Sie sagt nicht, wie schnell wir etwas tun sollten, oder ob wir einen radikalen, paradigmen-verändernden oder eher evolutionären Wandel brauchen. Social Media bringen zusätzliche Meinungen in diese Debatte. Und das ist gut so.

Unser Verständnis davon, was ein Problem ist und was nicht, was als unbequeme, aber unveränderbare Realität zu akzeptieren ist und was nicht, wird durch unsere Kultur beeinflusst. Was bedeutet „zu heiß“ auf einem Spektrum zwischen angenehm sonnig einerseits und andererseits so heiß, dass Menschen sterben? Genau was sollen wir anders machen und was nicht, welche spezifischen Investitionsentscheidungen treffen oder verschieben, angesichts der Tatsache, dass wir kein exaktens Wissen um die Zukunft haben?

Es gibt handfeste Zielkonflikte zwischen der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse und dem Verzicht auf Konsum in Erwartung einer langfristigen Belohnung. Wir denken vielleicht, wir sollten uns auf das Wirtschaftswachstum konzentrieren, die Armut lindern und Malaria bekämpfen – und das Klima künftigen, reicheren Generationen überlassen. So kommt es, dass (obwohl Nicholas Stern 2007 in dem nach ihm benannten Bericht überzeugend dargelegt hat, dass es billiger ist, heute den Klimawandel zu bremsen als in Zukunft die Folgen zu bewältigen) weiterhin Kohlekraftwerke gebaut werden und neue Flughäfen in Betrieb gehen. Menschen sind eben nicht durch und durch logisch denkende, rationale Wesen, welche „die Wissenschaft“ verstehen und das tun, von dem sie denken, dass es die Wissenschaft ihnen nahelegt. Und selbst wenn sie es wären: Wie ich bereits dargelegt habe, sagt uns „die Wissenschaft” nur, dass es eine Erderwärmung gibt – aber nicht, was wir dagegen tun sollen.

Café Demel in Wien, 2009; Foto: Gerd Eichmann/Wikimedia Commons

Menschen bewerten Risiken unterschiedlich (Douglas & Wildavsky, 1983). Wir sind bei langfristig entstehenden Problemen entspannter als bei unmittelbar spürbaren Risiken. Wenn ein Löwe auf uns zurennt, wird das eine direktere Reaktion auslösen als die Ankündigung, dass es in zehn Jahren eine Hungersnot geben wird, wenn wir unsere landwirtschaftlichen Methoden und Konsummuster nicht ändern. Denn in letzterem Falle denken wir, dass „schon noch eine Lösung auftauchen wird“. Verhaltensökonomen haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass wir auf vielerlei Arten voreingenommen sind. Wir agieren emotional und nicht logisch und wissenschaftsbasiert (Thaler, 2015). Folglich akzeptieren wir auch nicht, was „die Wissenschaft uns sagt“ und ändern dann umgehend unser Verhalten. Aus dem gleichen Grund essen oder trinken einige von uns mehr als das, was nach Aussage anderer gesund ist. Darum rauchen einige von uns oder fahren lieber Auto, statt ein wunderbar günstiges und zugängliches öffentliches Verkehrssystem zu nutzen.

Die Wissenschaft kann uns sagen, wie viel Kohlendioxid ein Flug freisetzt, aber wir haben Schwierigkeiten zu begreifen, was eine solche Zahl eigentlich im Sinne langfristiger globaler Prozesse und unserer individuellen Verantwortung bedeutet. Sollen wir jetzt nicht mehr fliegen, während doch weiterhin Kohlekraftwerke und Flughäfen gebaut werden? Die Wissenschaft kann uns sagen, wieviel Kohlenstoff durch den Bau, das Fahren und das Entsorgen eines bestimmten Autos emittiert wird – aber nicht, ob wir ein eigenes Auto haben und nutzen sollten.

Wir haben unterschiedliche Ansichten über die Dimension und die Dringlichkeit des Problems. Statt sich von der „Wissenschaft“ oder von einem technischen Verständnis dessen, „was funktioniert“, leiten zu lassen, haben Menschen unterschiedliche Moral- und Wertvorstellungen. Für einige erfordert die Vermeidung des gefährlichen Klimawandels einschneidendes staatliches Handeln , wie es zum Beispiel mit dem Green New Deal vorgeschlagen wird. Für andere ist die kapitalistische Marktwirtschaft das innovativste System, das die Menschheit je entwickelt hat, und sie gehen davon aus, dass technologische Innovation uns retten wird: Damit stellen wir das, was Thomas Friedman (2008) „Vater Profit“ nennt, vor Mutter Erde. Wieder andere Menschen sind überzeugt, dass gerade die Hybris der Moderne, welche behauptet, Probleme durch Technologie lösen zu können, das ganze Drama überhaupt eingebrockt hat. Einige gehen davon aus, die Zukunft werde mehr oder weniger aussehen wie die Gegenwart, aber als Ergebnis der nächsten langen Kondratieff-Welle der Innovation mit mehr e-Technologie und geringerem Kohlendioxid-Ausstoß.

»Wissenschaft kann die vielen ethischen Vorstellungen darüber, wie man sich zum Klimawandel verhalten sollte, niemals allein auflösen. Social Media können uns bei den notwendigen Diskussionen über individuelle Werte und Haltungen helfen.«

Andere betrachten selbst einen kohlenstoffarmen Kapitalismus als verwerflich. Stattdessen fordern sie „eine positive Zukunft für die menschliche Freiheit“; sie fordern einen radikalen Systemwechsel, da „das Klima alles verändert“ (Klein, 2014). Der Kapitalismus werde seine Versprechungen nicht erfüllen, und sie selbst würden keine Ruhe geen. Diese Systemkritiker betrachten die Klimakrise als Chance für den Wandel zu einer demokratischeren, inklusiveren und sympathischeren „Wirtschaftsethik für das Anthropozän“ (Gibson‐Graham und Roelvink, 2010), die uns allen – den Menschen und anderen Spezies – ein Leben in Würde und Wohlstand ermögliche. Diese Menschen ziehen eine kohlenstoffarme Zukunft einer – wie sie es beschreiben – wachstumssüchtigen, konsumgetriebenen Tretmühle vor, in der sich bei uns im globalen Norden zu viele Menschen befänden (Hopkins, 2008).

Und dann gibt es schließlich auch noch jene, die gar keine Zukunft für die Menschheit mehr sehen. Sie meinen, , der katastrophale Klimawandel führe unweigerlich zum Kollaps des Ökosystems, und wir müssten nun mit diesem unausweichlichen – vielleicht sogar willkommenen – Untergang umgehen. Einige behaupten gar, es werde Gaia („Mutter Erde“) besser gehen, wenn sie erst einmal den schädlichen menschlichen Befall abgeschüttelt hat, wie beispielsweise die Bewegung für das freiwillige Aussterben der Menschheit (Voluntary Human Extinction Movement). Kritiker dieser Bewegung werfen ihr wiederum eine menschenfeindliche und womöglich sogar rassistische Katastrophentheorie vor.

Da die Wissenschaft all diese unterschiedlichen ethischen und wertebasierten Vorstellungen darüber, wie man sich zum Klimawandel verhalten sollte, niemals alleine auflösen kann, vertrete ich die Auffassung: Social Media sind eine notwendige und willkommene Technologie, die uns dabei helfen kann, uns durch diese Diskussionen zu arbeiten und eine demokratische Politikgestaltung zu fördern.

4. Förderung von Innovationsnischen und radikalen Stimmen an der Basis

Das bringt mich zu meinem vierten Punkt: Was bedeutet es, eine „konstruktive“ Politik zu machen? Die allgemeine Wahrnehmung dieser Frage spiegelt sich gut in den Zielen für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) oder den konsensbasierten Berichten des IPCC. Im Gegensatz dazu betrachten Befürworter eines radikalen statt eines schrittweisen Wandels diese „post-politischen“ Konzepte von inklusiver und nachhaltiger Entwicklung kritisch. Sie halten dieses Vorgehen angesichts der Dringlichkeit und der Dimension des Klimaproblems für unzulänglich.

Bewegungsforscher haben schon lange erkannt, dass nicht nur Labor-Wissenschaft verlässliches Wissen produziert. Auch Umwelt- und Klimaaktive  betreiben „Wissensproduktion“ und entwickeln ihre eigenen Konzepte dazu, was mit dem Klima nicht stimmt und was getan werden sollte. Diese Konzepte stützen sich auf Argumente (unterschiedlicher Güte) und Daten (unterschiedlicher Verlässlichkeit) und tragen so (mehr oder weniger) zur Problemlösung bei.

Wenn Aktivisten man von der Wahrnehmung, „etwas läuft falsch“ hinkommen zu einem „etwas dagegen tun“, müssen sie Ressourcen von Unterstützern und Verbündeten mobilisieren: Geld, Zeit, Medien, Protestwillige, öffentliche Räume, in denen sie ihre Meinung äußern können. Greenpeace ist das paradigmatische Beispiel einer Sozialen Bewegung, die es geschafft hat, auf diese Art und Weise beträchtliche Ressourcen zu mobilisieren. Social Media machen das heute leichter denn je, und zwar – ich wiederhole das, weil es immer wieder gesagt werden muss – unentgeltlich. So konnten Aktivistinnen und Aktivisten – häufig professionell gemachte – Blogs und Webseiten zur Bewusstseinsbildung aufsetzen, Vorschläge entwickeln und Veränderungen fordern. In Sozialen Netzwerken verwendete Memes können wirkungsvolle Kommunikationswerkzeuge sein, durch die Argumente Form annehmen und Handeln kanalisiert wird. Über Social-Media-Plattformen angebotene Crowdfunding- und Online-Bezahlsysteme haben das Geldsammeln leichter gemacht als je zuvor.

 

»Neue Bewegungen wie Extinction Rebellion oder FridaysForFuture profitieren von Social Media. Diese bieten immer einfachere Möglichkeiten, um Treffen oder Protestveranstaltungen zu organisieren, um Blogtexte, Internet-Streams und Online-Videos zu verbreiten.«

 

Aber noch viel wichtiger: Social Media bieten immer einfachere Möglichkeiten, Treffen oder Protestveranstaltungen zu organisieren. Das können globale Mobilisierungsaktionen parallel zu den Weltklimakonferenzen sein, aber auch lokalere Umwelt- und Klimaschutzaktionen wie Proteste gegen Fracking oder Pipeline-Projekte. Neue soziale Bewegungen wie Extinction Rebellion oder FridaysForFuture profitieren von den sogenannten Sozialen Medien, wenn beispielsweiseTeilnehmende von Protestaktionen diese mit Blogtexten, Internet-Streams und Online-Videos dokumentieren.

Neue Kommunikationstechnologien unterstützen auch erst im Entstehen begriffene lokale Graswurzel-Experimente und Prototypen dessen, wie eine im Gleichgewicht mit der Natur lebende Gesellschaft aussehen könnte. Transition Initiatives zum Beispiel sind Basisprojekte zur Entwicklung lokal funktionierender, resilienter Gemeinschaften. Sie experimentieren mit lokalen Währungen, lokalen Nahrungsmitteln und Projekten für Erneuerbare Energie, Möglichkeiten für die lokale Produktion unter Nutzung lokaler Ressourcen und Genossenschaften und lokalen Unternehmen in Gemeinschaftsbesitz.

Laut dem Sozialwissenschaftler Alberto Melucci (1989) ist es häufig so, dass in solchen verborgenen Netzwerken neue Ideen entstehen, die später von größeren Kreisen übernommen werden. Seyfang und Smith (2007) weisen darauf hin, dass diese Netzwerke – von ihnen als „Innovationsnischen an der Basis“ bezeichnet – als Orte fungieren können, an denen sich neue Lebensweisen austesten lassen, bevor sie in der Folge in die breitere Gesellschaft diffundieren. Social Media erleichtern es ungemein, solche sich entwickelnden Innovationsräume zu organisieren, Unterstützung zu finden, Geld und andere Mittel zu beschaffen und die eigenen Ideen bekannt zu haben. Und einige dieser Ideen entfalten potenziell – und in der Realität – eine transformative Wirkung.

Zusammenfassung

Die neuen Sozialen Medien erschweren eine konstruktive Klimapolitik nicht. Vielmehr eröffnen sie mehr unterschiedlichen Stimmen Zugang zur Debatte und ermöglichen im Zusammenhang mit dem Klimawandel neue Formen von Strategien und Politik. Natürlich müssen wir die Fähigkeiten von politischen Entscheidungsträgern und Bürgern weiterentwickeln, gute und schlechte Argumente, gut belegte Fakten und Falschmeldungen auseinanderzuhalten. Und wir müssen in der Lage sein zu erkennen, wann die ideologische Position einer Person (und letztlich haben wir alle eine ideologische Position) die Argumente so weit verzerrt, dass diese nicht mehr ehrlich vorgetragen oder von verlässlichen und überzeugenden Daten gestützt werden. Vielleicht sind diese Positionen eigentlich gekaufte parteiische Vorstellungen Anderer, vielleicht wurden Daten gefälscht oder absichtlich ausgelassen, weil sie nicht ins eigene Weltbild passen. Allerdings können in vernetzten, freiheitlichen Gesellschaften Social Media solche eklatanten Täuschungen aufdecken und skandalisieren.

Das Problem liegt eher am Umfang des Missbrauchs und des Trollings, nicht an der Öffnung eines Marktplatzes der Ideen an sich. Statt Social Media als Hindernis für gute Klimapolitik wahrzunehmen, sollten sie als neues Werkzeug zur Kritik der Wissenschaft, zum besseren Verständnis für das Entstehen von Wissenschaft sowie für die Einbindung von citizen scientists und neuen Datenarten betrachtet werden, die zur Klimadebatte beitragen. Kritische, radikale Ideen über gesellschaftlichen Wandel, die sich tatsächlich als wertvoll herausstellen, können durch Social Media unterstützt werden. Über einen Blog verbreitete Ideen zur Frage, was gegen den gefährlichen Klimawandel zu tun ist, können zu einer Lawine werden , wie Greta Thunberg 2018 feststellte, als sie anfangs ganz allein zu einem Klimastreik aller Schülerinnnen und Schüler aufrief.

Café Eiles in Wien, 2008; Foto: Gerd Eichmann/Wikimedia Commons

Die Vermeidung eines gefährlichen Klimawandels ist kein geschlossener, technischer Prozess, den Regierungen, Industrie oder Wissenschaft diktieren könnten – und wir alle tun einfach, was man uns sagt. Meiner Ansicht nach erfordert der Klimawandel einen Paradigmenwechsel, eine gesellschaftliche Wende, zu der es aber bisher keine Einigkeit gibt und für die man sich nicht einfach elitären, wissenschaftlichen Positionen beugen sollte. Expertinnen und Experten beklagen natürlich und zu Recht einen Mangel an öffentlichem Respekt für das, was sie als nützliches, vernünftiges, konstruktives Expertenwissen betrachten. Diese Haltung verkennt jedoch, dass die Verhütung des gefährlichen Klimawandels ein umstrittener politischer Prozess ist und keine auf Konsens basierende, technische Umstellung. Wir brauchen so viele Meinungen wie möglich, um mit dieser Herausforderung fertigzuwerden, so viele Menschen wie möglich, die auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Wissensbereichen handeln.

Wir müssen unsere Fähigkeit entwickeln, uns mit Menschen unterschiedlicher Auffassungen online auseinanderzusetzen – aber mit Anstand. Wir müssen auch lernen, unterschiedlicher Meinung zu sein. Wir müssen bei dem, was wir online schreiben, genau und ehrlich sein und besser darin werden zu erkennen, wenn Menschen uns absichtlich täuschen wollen oder verdeckte Interessen unterstützen. Auch müssen wir denen, die nicht an Social Media-Kanäle angebunden sind, die Teilnahme ermöglichen, insbesondere im Globalen Süden oder in nicht-demokratischen Gesellschaften. Dies mag ein utopischer Anspruch sein. Aber wir sollten Social Media nicht für ihre unerwünschten Nebenwirkungen kritisieren, wenn sie gleichzeitig das Potenzial haben, die Demokratie neu zu beleben und Menschen um neue und radikale Ideen zu versammeln, wie sie für den Umgang mit dem Klimawandel benötigt werden.

Übersetzung: Vivi Benthin

Literatur
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Douglas, M. und Wildavsky, A. (1983) Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technological and Environmental Disasters. Berkeley: University of California Press.
- Friedman, T.L. (2008) Hot, Flat and Crowded. London: Allen Lane.
- Gibson‐Graham, J.K. and Roelvink, G. (2010) An economic ethics for the Anthropocene. Antipode. 41: 320‐346.
- Hopkins, R. (2008) The Transition Handbook: From Oil Dependency to Local Resilience. Totnes: Green Books.
- Hulme, M. (2009) Why We Disagree About Climate Change. Cambridge: Cambridge University Press.
- Klein, N. (2014) This Changes Everything: Capitalism vs. the Climate. London: Allen Lane.
- Latour, B. (2004) Politics of Nature: How to Bring the Sciences into Democracy. Cambridge: Harvard University Press.
- Melucci, A. (1989) Nomads of the Present. London: Hutchinson Radius.
- North, P. (2011) The politics of climate activism in the UK: a social movement analysis. Environment and Planning A. 43(7): 1581‐1598.
- Seyfang, G. und Smith, A. (2007) Grassroots innovations for sustainable development: Towards a new research and policy agenda. Environmental Politics. 16: 584‐603.
- Thaler, R.H. (2015) Misbehaving: The Making of Behavioural Economics. London: Allen Lane.