Jérémie Gagné, Senior Projektmanager der Organisation „More in Common“ und Co-Autor der Studie "The New Normal"

Herr Gagné, inwieweit hat die Corona-Krise für das Bewusstsein um die Klimakrise überhaupt eine Rolle gespielt?

Gerade in Klimafragen wurde der Lockdown durchaus als ein einschneidender Moment wahrgenommen. Eine ganz überwiegende Mehrheit der Befragten sagte, der Lockdown habe ihnen gezeigt, dass CO2-Einsparungen möglich sind.

Viele Menschen haben diese Zeit außerdem als einen „Resetmoment“ wahrgenommen, also als Moment, in dem man sich grundsätzliche Fragen gestellt hat darüber, was eigentlich nötig und möglich ist, worauf man gegebenenfalls verzichten kann. Also nicht zwangsläufig ein Anlass für einen gänzlichen Neubeginn, aber durchaus ein Moment, wo man vertieft darüber nachdenkt: Wie kann es jetzt weitergehen?

Das mündet auch in Forderungen an die Gesellschaft und das politische System, diesen Moment zu nutzen, um Bilanz zu ziehen und darüber zu sprechen, wie man besser in die Zukunft gehen kann.

Eine große Befürchtung der Klimabewegung war, dass Themen wie Umwelt- und Klimaschutz durch die Pandemie in den Hintergrund gedrängt werden. Ihre Ergebnisse zeichnen aber eher ein anderes Bild, oder?

Tatsächlich ist es nicht so, dass Klima- und Umweltschutz in den Köpfen der Bürger in den Hintergrund gedrängt worden wären. Ganz im Gegenteil. Natürlich gibt es derzeit unmittelbare Sorgen im Hinblick auf die Corona-Krise. Es ist zum Beispiel so, dass acht von zehn Menschen in Deutschland sich Sorgen machen in Bezug auf eine schwere Wirtschaftskrise. Das ist nachvollziehbar. Aber wenn man die Menschen fragt, wohin sich dieses Land eigentlich aus der Krise heraus entwickeln sollte, steht der Wunsch nach einem umweltfreundlicheren Land an erster Stelle.

Das heißt, das Bekenntnis zu mehr Umwelt- und Klimaschutz ist stark und bleibt präsent. Und man könnte sagen, er wird eben auch bestärkt durch die Krisen- und Lockdown-Erfahrung. Gleichzeitig ist etwa die Hälfte der Menschen besorgt, dass der Umweltschutz unter der Krise leiden könnte.

Kann man präzisieren, wer diese Menschen sind, die mehr Umwelt- und Klimaschutz befürworten?

Wir haben bei „More in Common“ für Deutschland sechs sogenannte gesellschaftliche Typen  identifiziert, die jeweils einen ganz eigenen Blick auf Gesellschaft, eigene Werte und Grundüberzeugungen haben. Darunter gibt es Typen wie „die Offenen“ oder „die Involvierten“, die aufgrund ihrer Überzeugungen erwartbarer Weise schon früher zum Umweltschutz neigten.

Es zeigt sich aber immer deutlicher, dass sich der Wunsch nach mehr Umwelt- und Klimaschutz nicht mehr auf die beschränkt, die aufgrund ihrer Werte und Grundüberzeugungen vielleicht schon seit Jahren im Umfeld der Klimabewegung hätten vermutet werden können. Sondern mittlerweile findet man diesen Wunsch, wenn auch in Abstufungen, eigentlich in fast allen Ecken der Bevölkerung. Es gibt zwar Typen, die in den letzten Jahren noch mit anderen Prioritäten beschäftigt waren, also beispielsweise „die Enttäuschten“, die einen sehr starken Fokus haben auf Gerechtigkeitsfragen, auf Fragen von Gemeinschaft und Wertschätzung. Auch bei diesen Gruppen sehen wir aber mittlerweile ein starkes Bedürfnis nach Umwelt- und Klimaschutz. Dieser Wunsch hat sich verbreitert.

Um zu verstehen, wie die Gesellschaft "tickt", hat More in Common ein neues Modell gesellschaftlicher Segmente entwickelt, Quelle: Quelle: The New Normal (S. 18), More in Common (2020)

Das könnte man auch so interpretieren, dass inzwischen mehr Menschen denken, dass Umwelt- und Klimaschutz eben auch wichtig sind für eine gerechtere und sozialere Gesellschaft?

Das ist definitiv zu spüren. Wir haben mit den verschiedenen Typen auch Forschungsgespräche in sogenannte Fokusgruppen durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass selbst bei jenen Typen, die wir als „unsichtbares Drittel“ bezeichnen, weil sie bislang nicht so wirklich im öffentlichen Diskurs vorkommen, es mittlerweile eigentlich selbstverständlich ist, klimapolitisch zu denken. Sie fassen oftmals die Klimakrise als Problem und auch als gemeinsame Herausforderung auf, die nicht nur für unser Land, sondern die gesamte Welt sehr große Risiken darstellt.

Natürlich gibt es dann Verschränkungen mit anderen Fragen: Bei so einer großen Herausforderung stellen sich Menschen die Frage, wie Lösungen gefunden werden können, die möglichst gerecht sind, die auch für die Wirtschaft in eine gute Zukunft führen. All diese Aspekte spielen ineinander, aber das Grundbewusstsein ist mittlerweile sehr stark.

Wenn ich mir die Berichterstattung zu „Corona-Leugnern“ ansehe, habe ich das Gefühl, dass sich gerade sehr viel Zorn, Unsicherheit, Verdruss entlädt. Führt die Corona-Krise zu mehr Polarisierung?

Am Beispiel von Deutschland kann man sehr gut verdeutlichen, dass die Bürger:innen das Krisengeschehen sehr unterschiedlich wahrnehmen, je nach ihrer besonderen Perspektive auf Gesellschaft. Wir haben „gesellschaftliche Typen“ in Deutschland, die schon vor der Krise ein starkes Vertrauensverhältnis zum politischen System hatten und auch eher ein hohes Sozialvertrauen in ihre Mitmenschen. Die fühlen sich durch das bisherige Krisengeschehen eher positiv bestätigt und sind jetzt noch zufriedener. Hier herrscht das Gefühl, „da hat Land etwas gemeinsam geschafft“.

Und dann haben wir Typen, die eigentlich zuvor schon gehadert haben. Bei denen geht die Entwicklung in die gegensätzliche Richtung, weil sie sich vor allem negativ bestätigt sehen durch Erfahrungen von Misstrauen, durch eine Politik, die ihnen noch nicht weit genug geht; das sind oftmals Menschen, die sich auch in dieser Krise allein gelassen fühlen und die also weiterhin massive Vorbehalte haben gegenüber der Politik, aber auch gegenüber ihren Mitmenschen.

Das heißt, hier stehen sich Perspektiven gegenüber, die völlig unterschiedlich sind. Für die einen ist die Corona-Zeit ein Erfolgsmoment, und für die anderen ist noch ganz, ganz viel Luft nach oben. Und dementsprechend liegt hier ein gesellschaftliches Spaltungspotenzial, wenn man jetzt all diesen Menschen ein einheitliches Narrativ davon präsentieren wollte, wie diese Krise bislang gemeistert wurde.

Kann man dieses Spaltungspotenzial auch auf die Wahrnehmung der Bürger:innen in Bezug auf bislang durchgesetzten Klima- und Umweltschutz übertragen?

Das ist natürlich nochmal ein spezieller Fall. In dem Bereich gibt es Typen, die ein ganz klares Bekenntnis haben zum Umweltschutz und für die das ganz oben steht auf ihrer Agenda steht. Es gibt aber auch Typen, bei denen wir damit rechnen müssen, dass sie noch andere Prioritäten haben. Und da ist es wichtig, dass der Diskurs darüber, was jetzt klimapolitisch angebracht ist, im Austausch mit diesen unterschiedlichen Perspektiven gestaltet wird.

Was bedeutet das?

Es gibt Menschen, die sich massiv mit Fragen von Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit auseinandersetzen. Also mit Fragen, wer eigentlich wie viel beiträgt in diesem Land, wer wie viel beitragen müsste, wer welche Verpflichtungen eingehen müsste. Deswegen ist es ganz wichtig, diese Bedürfnisse auch aufzugreifen und darüber zu diskutieren, wie man Klimaschutz so gestaltet, dass alle oder eine große Mehrheit der Menschen ihn als gerecht empfinden. Hierin liegt dann in der praktischen Umsetzung einerseits ein Potenzial, die Menschen zu einen, wenn alle das Gefühl haben, das ist gerecht. Andererseits gilt es Spaltung zu verhindern, indem man beispielsweise nicht den einen das Gefühl gibt, das geschieht jetzt übermäßig auf eure Kosten.

Ein Ergebnis der Befragung zeigt, dass nahezu alle Befragten der Ansicht sind, dass Rettungspakete für private Unternehmen an Bedingungen geknüpft werden sollten, etwa an Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen. In der Realität ist das bislang ja eher nicht passiert. Könnte das die Unzufriedenheit steigern?

Wir sehen insgesamt in unserer Forschung, dass die Menschen in der Breite ein sehr genaues Gespür dafür haben, wem eigentlich was abverlangt wird und wem nicht. Auch und gerade in der Krise. Im Gespräch in den Fokusgruppen zeigte sich, dass insbesondere Auflagen für Wirtschaftshilfen immer auch eine Gerechtigkeitsfrage sind, bei der die Menschen ganz genau hinschauen, welche Bedingungen zum Beispiel Großunternehmen im Gegensatz zu Kleinunternehmern gestellt werden, wenn sie Hilfsgelder beantragen wollen.

Zusammenhalt und die Sorge für andere gelten unter Soziologen als entscheidende gesellschaftliche Ressource, um Krisen bewältigen zu können, Quelle: The New Normal (S. 21), More in Common (2020)

Unsere Daten zeigen eine starke Forderung danach, dass Hilfen auch und gerade an ökologische Bedingungen geknüpft werden. 85 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass sich Unternehmen im Gegenzug zu CO2-Einsparungen verpflichten sollten. Und wir können davon ausgehen, dass die Menschen sehr genau beobachten werden, ob das auch geschieht im weiteren Verlauf. Wir müssen auch davon ausgehen, dass das natürlich einen Einfluss hat auf ihren eigenen Handlungswunsch in klimapolitischen Fragen. Wenn man das Gefühl hat, Großunternehmen werden nicht in die Pflicht genommen, hat es wahrscheinlich auch einen psychologischen Rückeffekt auf das eigene Handeln.

Da dies eine repräsentative Umfrage ist, muss man ja davon ausgehen, dass auch Angestellte von jenen Unternehmen, die von CO2 Auflagen auch betroffen wären, das so sehen?

Das ist richtig. Das bildet die Gesamtbevölkerung ab. Dort gibt es insgesamt eine sehr starke Unterstützung für solche Auflagen. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind dabei nicht allzu groß.

Was aus Ihrer Sicht ist notwendig, dass diese in Deutschland doch eher positive Grundstimmung, die Sie da abgebildet haben, stabil bleibt?

Es kommt jetzt entscheidend darauf an, mit welcher Grundhaltung Gesellschaft und Politik in die zweite Corona-Welle hineingehen. Wir haben in unserer Grundlagenstudie im letzten Jahr gesehen, dass damals viele Bürger noch das Gefühl hatten, das Land befindet sich im Wartestand, weil die Politik noch nicht wirklich an die Zukunftsfragen herangehen will. Dieser Eindruck mangelnder Handlungsfähigkeit hat sich tatsächlich durch die Corona-Politik während der ersten Welle massiv verbessert. Die Menschen hatten durch die Leistung der Politik das Gefühl, da geschieht ja etwas. Um an diese Entwicklung anzuknüpfen, braucht es eine möglichst konsistente Linie im politischen Handeln.

Was noch?

Der zweite Punkt ist, dass man möglichst versuchen sollte, die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern dieser Krise gering zu halten. Und insbesondere geht es auch darum, auf die Menschen zu achten, die großen Belastungen ausgesetzt waren in den letzten Monaten. Die Menschen haben ein sehr genaues Gespür dafür, wie unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aus dieser Krise herausgehen werden, um wen sich gekümmert wird, und um wen nicht.

Lässt sich hier eine Parallele zur Klimapolitik ziehen?

Es gibt bei beiden Themen unterschiedliche Präferenzen, Prioritäten, Wertvorstellungen. Uns bei „More in Common“ ist wichtig, dass diese unterschiedlichen Vorstellungen einfließen in den gesellschaftlichen Diskurs. Wir sind davon überzeugt, dass gesamtgesellschaftliches Handeln und gesamtgesellschaftliche Lösungen nur dann möglich sind, wenn wir diese Perspektiven ein Stück weit zusammenbringen, zusammenführen hinter Lösungen, die möglichst vielen z.B. gerecht und nachhaltig erscheinen oder mit denen zumindest die meisten ihren Frieden machen können. Damit am Ende die Menschen in Deutschland sagen können, das hat unsere Gesellschaft weitergebracht und auch eher geeint.

Es sollte hingegen vermieden werden, dass sich Menschen ins „eigene Lager zurückziehen“ und es zu einer „Wir gegen die“-Dynamik kommt. Und das gilt sowohl für die Regeln, die erlassen werden, als auch für die Art, wie wir insgesamt in der Gesellschaft über bestimmte Bevölkerungsgruppen sprechen. Sowas wird ganz schnell zum Spaltpilz. Wenn beispielsweise die einen abgewertet oder zu Sündenböcken abgestempelt werden, fördert das Gefühle von Ungerechtigkeit und Ressentiments. Und am Schluss schwächt es nicht nur unsere Kraftanstrengungen gegen Corona, sondern den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Großen.

Das Interview führte Daniela Becker