Die Wirtschaftswoche ist mit einer Auflage von mehr als 120.000 Stück eines der renommiertesten Wirtschaftsblätter in Deutschland. Die Autorin Cora Stephan  schreibt für das Magazin eine regelmäßige Kolumne mit dem Titel "Stephans Spitzen", und im vergangenen August befasste sich die 66-Jährige darin mit Klimawandel und Klimaforschung. Stephan klagte, der Sommer sei so regnerisch, so kühl. Sie spottete: "kein Klimawandel, nirgends". Sie behauptete: "Seit beinahe 20 Jahren ist kein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur nachgewiesen." Und sie verwies auf eine russische Forscherin, die gar eine neue Eiszeit erwarte. Um daraus den Schluss zu ziehen, dass unliebsame Forschungsergebnisse unterdrückt würden.

Der Artikel war ein Meinungsbeitrag, und Meinungen sind bekanntlich frei. Aber heißt dies, dass in derartigen Texten alles geschrieben werden darf? Was ist mit faktischen Aussagen in einem solchen Beitrag?

Wissenschaftler könnten Stephan zum Beispiel entgegenhalten, dass der Sommer 2016 hierzulande überhaupt nicht besonders kühl oder feucht war – sondern im Gegenteil sogar überdurchschnittlich warm und trocken. Das bilanzierte beispielsweise der Deutsche Wetterdienst (DWD) in seinen Monatsberichten für Juli oder August 2016. Dass eine "Kleine Eiszeit", falls die Vorhersage der russischen Forscherin denn überhaupt eintrifft, den Klimawandel allenfalls marginal bremsen würde.  Oder dass die angebliche "Pause" bei der Erderwärmung, die Stephan mit einem Link auf einen acht Jahre alten Beitrag eines Laienblogs zu belegen versucht, spätestens mit den weltweiten Hitzerekorden der Jahre 2014 und 2015 unzweifelhaft beendet war – also lange bevor sie ihre Kolumne niederschrieb.

"Schäbigem Journalismus mit Verweis auf die Redefreiheit Freibrief erteilt"

Die in der angesehenen Wirtschaftswoche verbreitete Verschwörungstheorie blieb in Deutschland ohne Echo. Ein ähnlicher Fall in Großbritannien hingegen sorgte kürzlich für einiges Aufsehen. James Delingpole, Autor des konservativen Magazins The Spectator, hatte in einem teils hämischen Text die Versauerung der Meere zu einem vollkommen übertriebenen Thema erklärt.

Phillip Williamson, Professor für Geochemie an der University of East Anglia in Norwich und einer der führenden britischen Forscher zum Thema, veröffentlichte daraufhin im Fachblatt The Marine Biologist eine wissenschaftlich fundierte Punkt-für-Punkt-Entgegnung. Außerdem reichte er bei der Independent Press Standards Organisation (Ipso), der unabhängigen Selbstkontrollstelle der britischen Presse eine Beschwerde ein. Der britische Pressekodex verpflichtet nämlich – wie ähnliche Regularien auch in anderen westlichen Ländern – alle Journalisten und Verleger zu einer sorgfältig recherchierten und wahrheitsgemäßen Berichterstattung.

Doch Williamson erlebte eine Überraschung, seine Beschwerde wurde abgewiesen. Der Artikel sei "klar ein Kommentarstück" gewesen, beschied Ipso, und man habe als Kommission nicht die Aufgabe, in einer Debatte die zutreffenden Fakten zu ermitteln oder über widerstreitende Positionen zu urteilen. Zwar habe es in dem Spectator-Text einige sachliche Fehler gegeben, aber die seien "nicht signifikant" gewesen. Frustriert kommentierte Williamson das Ergebnis: Mit Verweis auf die Meinungsfreiheit sie hier "schäbigem Journalismus" ein Freibrief erteilt worden.

Die journalistische Sorgfaltspflicht gilt auch für Meinungsbeiträge

Laut deutschem Pressekodex ist die "wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit" eines der "obersten Gebote" der Medien. In dem Dokument haben Journalisten- und Verlegerverbände erstmals 1973 ihre standesethischen Regeln niedergelegt, und seitdem immer wieder ergänzt. Die Regeln sind relativ allgemein gehalten, bis auf zwei Ausnahmen finden sich darin keine konkreten Richtlinien für wissenschaftliche Themen: Lediglich zu Meinungsumfragen wird festgehalten, dass die Presse stets auch methodische Details zu den Erhebungen mitliefern müsse, etwa die Zahl der Befragten. Und zur Medizin-Berichterstattung findet sich das Gebot, keine "unbegründeten Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser" zu wecken, etwa durch verfrühte Meldungen über Durchbrüche bei der Arzneiforschung. Eine Regel also, die zu besonders gründlicher Recherche und präziser Formulierung anhält.

Doch auch wenn jenseits der Sondergebiete Meinungsumfragen und Medizinjournalismus spezifische Regeln für Wissenschaftsberichterstattung fehlen – Ziffer 2 des Pressekodex' ist durchaus deutlich. Dort heißt es: "Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen ... sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben."

Es ist sicherlich Auslegungssache, welcher Grad von Sorgfalt "nach den Umständen" jeweils "geboten" sein mag. Doch interessanterweise unterscheidet der deutsche Pressekodex – anders als der britische oder auch jene in Österreich und der Schweiz – nicht prinzipiell zwischen (neutraler) Nachricht und (subjektivem) Kommentar. Die Sorgfaltspflicht gelte daher prinzipiell auch bei Meinungsbeiträgen, erklärt Arno Weyand vom Deutschen Presserat. "Natürlich sind die Grenzen dessen, was man schreiben darf, in Kommentaren weiter – aber erkennbar und deutlich falsche Aussagen sind auch da nicht erlaubt."

Meinungstexte mit wissenschaftlichen Falschaussagen von Bild bis FAZ

Zwar sind fehlerhafte oder zumindest zweifelhafte Darstellungen zum Stand der Klimaforschung in deutschen Medien relativ selten – aber wenn es sie gibt, finden sie sich (wie bei Cora Stephan) meist in Kolumnen oder Gastkommentaren. So behauptete vor Jahren ein Dortmunder Physik-Professor in Bild, der IPCC ignoriere in seinen Klimaberechnungen die Sonnenaktivität – was sich durch einen Blick in IPCC-Berichte leicht widerlegen lässt. Und in der FAZ forderte der Ex-Präsident des Stahlwirtschaftsverbandes 2013 einen "Freispruch für CO2" – seine Begründung: Der Klimawandel hänge nicht direkt mit den Emissionen zusammen.

Natürlich dürfe ein Gastautor eine "zugespitzte Meinung" haben, sagt Weyand, aber auch er "kann nicht schreiben, was er will". Eine Redaktion sei auch bei Fremdbeiträgen verpflichtet, darin enthaltene Tatsachenbehauptungen zu überprüfen und im Zweifelsfall nach Belegen zu fragen. "Die Meinungsfreiheit reicht weit – aber wenn eine Meinung zum Beispiel ehrverletzend oder diskriminierend ist oder falsche Fakten transportiert werden, dann muss die Redaktion eingreifen." Letztlich sei sie verantwortlich für alles, was in ihrem Blatt steht – deshalb müsse bei etwaigen Fehlern auch "sie sich am Schluss den Schuh anziehen".

Weyand, der seit zwei Jahrzehnten beim Presserat Beschwerden bearbeitet, erinnert sich zum Beispiel an einen Fall aus einer Lokalzeitung: Die hatte einen Leserbrief abgedruckt, dessen Verfasser behauptete, ein verstorbener Lokalpolitiker habe im Dritten Reich Raubkunst beiseitegeschafft. Belege dafür hatte er nicht. Der Presserat rügte die Redaktion, weil sie versäumt hatte, den Leserbriefschreiber danach zu fragen. In einem anderen Fall missbilligte das Gremium einen Kommentar in einer überregionalen Tageszeitung. Darin hatte der Autor den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan falsch zitiert - und den Fehler auch im Nachhinein nicht korrigiert.

Im Österreichischen Pressekodex ist sogar explizit niedergeschrieben, dass die Sorgfaltspflicht auch für Meinungsbeiträge gilt. "Gewissenhaftigkeit und Korrektheit in Recherche und Wiedergabe von Nachrichten und Kommentaren sind oberste Verpflichtung von Journalisten", heißt es dort. Natürlich gebe es Unterschiede zwischen Fakten- und Meinungsartikeln, erklärt Alexander Warzilek, Geschäftsführer des Österreichischen Presserats. Eine Sachaussage in einem Meinungsbeitrag müsse vielleicht weniger genau überprüft werden – "aber sie muss mindestens einen wahren Kern haben". Schon mehrfach habe man Rügen wegen falscher Tatsachendarstellungen in Meinungstexten ausgesprochen. Wenn über einem Text "Kommentar" oder "Meinung" steht, mahnt Warzilek, dann sei das jedenfalls "kein Freibrief".

Der Schweizer Presserat hängt die Latte hoch

Nun sind offene Falschaussagen selbst in Meinungstexten eher selten. Eher werden relevante Informationen weggelassen, Zitate aus dem Zusammenhang gerissen oder aus der Vielzahl von Studien just jene ausgewählt, die die eigene Position untermauert – selbst wenn sie methodisch wacklig ist oder veraltet oder von Interessengruppen finanziert. "Cherry Picking" wird diese  für Wissenschaftsleugner typische Strategie genannt, zu deutsch: Rosinenpickerei. In dem eingangs erwähnten Spectator-Artikel zur Ozeanversauerung beispielsweise zitierte Autor Delingpole Kronzeugen, die zum Thema überhaupt nicht geforscht haben. Er überdehnte Expertenaussagen so sehr, dass sie seine Meinung zu stützen schienen. Und er führte Datenreihen an, die von Fachleuten als unzuverlässig eingestuft werden (und enthielt diese begründeten Einwände der Leserschaft vor).

Laut dem Schweizer Pressekodex wäre ein solches Vorgehen wohl als Regelverstoß zu werten. "Journalistinnen und Journalisten", heißt es dort, sollten sich auch "bei der Interpretation und der Kommentierung von Informationen" vom "Prinzip der Fairness leiten" lassen. Und, so Ziffer 3: "Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen."

In der Spruchpraxis des Schweizer Presserates findet sich ein Fall, bei dem es konkret um eine wissenschaftlich falsche Aussage in einem Meinungsbeitrag ging. Im Sommer 2010 hatte sich der Chefredakteur des Tagesanzeiger-Magazins in einem Editorial höchst kritisch zur Homöopathie geäußert, deren Wirksamkeit mit naturwissenschaftlichen Methoden bekanntlich nicht nachweisbar ist. In seinem Editorial hatte der Journalist denn auch geschrieben: "Es gibt keine einzige Studie, welche die Wirksamkeit von homöopathischen Mitteln beweisen würde." Hierüber beschwerte sich der Verband der Schweizer Homöopathen – und bekam recht. In seiner Absolutheit war der Satz nämlich falsch. Denn es gibt durchaus Untersuchungen, in denen Homöopathie-Patienten von positiven Heilungserfahrungen berichten (nur gehen diese wohl eher auf psychologische Effekte zurück als auf irgendeine naturwissenschaftlich nachweisbare Wirkung der homöopathischen Arzneien). Sinngemäß ging das Editorial also durchaus in die richtige Richtung; doch der Schweizer Presserat entschied sich für eine strenge Auslegung und kritisierte eine "Entstellung von Tatsachen".

Auch für Meinungsbeiträge also darf man sich nicht Fakten zurechtbiegen oder verzerren. In einem "Vademekum" hat der Schweizer Presserat ausbuchstabiert, was seine (allgemein gehaltenen) Grundsätze in der Praxis bedeuten - und betont dort explizit "das Verbot der Entstellung von Tatsachen" auch in Kommentaren. Jeder Meinungstext benötige eine "sachliche Grundlage", die der Leserschaft korrekt mitzuteilen sei. Kategorisch heißt es: "Der grundsätzlichen Freiheit des Kommentars sind berufsethische Grenzen gesetzt."

Toralf Staud