Dies ist kein Film über den Klimawandel. Sicher: "Immer noch eine unbequeme Wahrheit´- Unsere Zeit läuft" beginnt mit beeindruckenden Bildern aus der Arktis, mit Panoramaaufnahmen schnell dahinschmelzender Gletscher in Grönland. Er dokumentiert die Verwüstungen, die Massengräber, die der Taifun Hayan auf den Philippinen hinterlassen hat. Er zeigt das schrittweise Absaufen der nur knapp über dem Meeresspiegel liegenden US-Metropole Miami.

Tatsächlich aber ist es ein Film über Klimapolitik, oder präziser und härter: über Politik. Im Mittelpunkt steht ein Mann, der fast sein gesamtes politisches Leben dem Kampf gegen den Klimawandel gewidmet hat: Al Gore. Der frühere US-Vizepräsident in der Amtszeit von Bill Clinton legt damit eine filmische Autobiographie vor, und es ist eine spannend erzählte politische Handlungsreise, auf der die Zuschauer Al Gore begleiten. Sie reisen mit ihm an die Hotspots des Klimawandels rund um den Globus, leiden mit ihm an den politischen Machenschaften der ideologischen Leugner des Klimawandels, berichten von seinen schmerzhaften Niederlagen, unter anderem als er bei den Präsidentschaftswahlen 2000 trotz Stimmenvorsprungs im ganzen Land nach einer umstrittenen Auszählung in Florida dem Republikaner George W. Bush unterlag.

Vor allem aber begleiten die Zuschauer Al Gore immer wieder bei Auftritten der von ihm gegründeten Organisation The Climate Reality Project. Ziel der Organisation ist die Ausbildung eines weltweiten "Leadership Corps" von Menschen, die in ihren Ländern als Sprecher und Führungspersönlichkeiten auf die Dringlichkeit des Klimaproblems hinweisen.

Im dramaturgischen Mittelpunkt steht Al Gore ...

Im dramaturgischen Mittelpunkt des Films, der am 7. September in den deutschen Kinos anläuft, steht die Pariser Klimakonferenz 2015. Berichtet wird von den intensiven Vorbereitungen, vor allem aber von der zentralen Rolle, die Al Gore dabei spielte, eine drohende Blockade des Pariser Abkommens durch das energiehungrige, selbstbewusste, aufstrebende Indien in letzter Minute abzuwenden. Ins Scheinwerferlicht gerückt wird hier der 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Anführer und Heros der Klimabewegung, Al Gore also.

So stimmig diese filmische Verdichtung auf die Führungsrolle Al Gores in der internationalen Klimapolitik ist, so sehr der Plot auch trägt – als europäischer Zuschauer bleibt man angesichts der hier sichtbaren Heldenverehrung skeptisch. Man könnte den Film deshalb als überhöhte Hollywood-Saga über das Wirken von Einzelpersönlichkeiten auf die Weltläufte abtun. Und man muss es weder mögen noch für eine sinnvolle Darstellung demokratischer Prozesse handeln, wenn man wieder und wieder sieht, wie Al Gore spricht und spricht und spricht - und ihm seine Zuhörer bei Kundgebungen und Versammlungen ergriffen, bewegt, begeistert zuhören. Viel zu wenig kommen die Stimmen von politischen Weggefährten, Freunden, Familienmitgliedern zu Wort.

... dennoch ist der Film mehr als ein Hollywood-Heldenepos

Und doch ist der Film mehr als ein Heldenepos, ist er auch für die Klimakommunikation wichtig. Ein Jahrzehnt nach Al Gores erstem Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit" führt er das Klimathema weg vom Spezialgebiet von Wissenschaft und Forschung, weg vom Streit über Zahlen und Eintrittswahrscheinlichkeiten - und direkt in die gesellschaftliche Mitte: zur Politik. Die zentrale Botschaft Al Gores lautet: "Wir brauchen in unserer Demokratie einen Dialog über die Ursache und Folgen des Klimawandels." Und in diesem Dialog geht es um das Entscheidende – um die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens, um das, was Gesellschaften als gerecht ansehen. Gore sieht seine Arbeit als Teil einer globalen Bürgerbewegung, die dem Ethos großer Freiheits- und Emanzipationsbewegungen folgt. "Mit Eurem Kampf gegen den Klimawandel steht ihr in der Tradition derjenigen, die für die Abschaffung der Sklaverei, für Frauen- und Bürgerrechte, gegen die Apartheid und die Unterdrückung Homosexueller kämpften", ruft er seinen Anhängern und den Zuschauern zu.

Diese moralische Aufladung werde seiner Sache schaden, kritisierte kürzlich Adam Corner von der britischen Organisation Climate Outreach: In einem politisch so aufgeladenen, ideologisch so polarisierten Klima wie dem der Vereinigten Staaten werde der Film den Widerstand im Lager der Republikaner nur noch weiter verhärten und verfestigen. Allenfalls die bereits Überzeugten werde der Film also erreichen.

"Besteht darauf, dass jeder, den Ihr wählt, für den Klimaschutz aktiv wird!"

Diese Furcht indes muss man für das Kinopublikum jenseits der USA und ihrem "kaputten politischen System" (Al Gore) nicht teilen, ganz im Gegenteil. In einer politischen Kultur wie der deutschen, in der der Vorwurf des "Gutmenschentums" schon zu den schwersten Anklagen gehört, wirkt es wie ein Wegweiser praktischer Klimakommunikation, wenn Gore seine Zuschauer fragt: "Wer sind wir? Wollen wir selbstsüchtig sein und nur auf unseren momentanen Luxus schauen? Obwohl wir dann ignorieren, was um uns herum vorgeht? Obwohl wir dann unser Mitgefühl verlieren? Oder haben wir Herzen, die groß genug sind?"

Al Gore (ganz rechts) unter anderem mit Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (3.v.r.) auf der Bühne des Zoopalasts, wo Anfang August die Europapremiere seines neuen Filmes stattfand; Foto: BMUB; Filmplakat oben: Paramount

Al Gore will den Klimawandel zu einem Alltagsthema machen, zu einem Thema täglicher Gespräche. Und er will, dass dies zu politischem Handeln führt: "Nehmt Eure politischen Grundrechte als Bürger wahr und besteht darauf, dass jeder, den ihr wählt, für den Klimaschutz aktiv wird", rief er dem Publikum zu, als der Film gestern im Berliner Zoopalast Europapremiere feierte. Ob es sich dabei inspirieren lässt von einem um die Welt reisenden ehemaligen Vizepräsidenten, dessen Tagesablauf mit Politikergesprächen, Fernsehauftritten, Kundgebungen und Gipfelkonferenzen so ganz anders ist als der des Durchschnittsbürgers?

Der Film immerhin lässt diese Verbindung zum Menschen Al Gore mit seinen Schwächen und Niederlagen und Ängsten zu. In einer ebenso kurzen wie eindrücklichen Szene zeigt es den müden Klimaaktivisten, wie er sich nach einem deprimierenden Besuch im überfluteten Miami im Hotelzimmer die durchnässten Socken auszieht. Und man weiß: Beim Klimawandel geht es um viel mehr als nasse Socken.

"Immer noch eine unbequeme Wahrheit" ist ab dem 07. September in den deutschen Kinos zu sehen.

Carel Carlowitz Mohn