Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Infektionsschutzmaßnahmen haben viele Menschen gezwungen, ihren Alltag zu verändern, Routinen zu unterbrechen. Ob Arbeit, Kinderbetreuung, Schule, Freizeitgestaltung, Reisen, Einkaufen oder Sport – in fast keinem Lebensbereich funktioniert es mehr so, wie es vor einem Jahr selbstverständlich war und oft unveränderbar schien.

Nun gilt es als gesicherte Erkenntnis der Sozialforschung (und der Lebenserfahrung), dass Menschen in Umbruchsphasen besonders offen sind für Veränderung. Normalerweise zeigt sich dies bei privaten Veränderungen, etwa beim Umzug in eine andere Stadt, dem Wechsel des Arbeitsplatzes, der Geburt von Kindern, dem Eintritt in die Rente. All das sind einschneidende Situationen, in denen sich Menschen häufig umorientieren. „Die Bereitschaft, etwas Neues auszuprobieren, ist dann besonders groß“, sagt zum Beispiel Mobilitätsforscherin Sophie Becker.

Die Pandemie ist, notgedrungen, auch so eine Situation.

„Große Zäsuren verändern Gesellschaften“, sagt Gianna Martini, Campaignerin Freiwilligenarbeit Klima & Energie bei Greenpeace Deutschland. „Wir wollten wissen inwieweit Corona die Menschen zum Nachdenken und Umdenken gebracht hat.“ Und ob die Menschen zum Beispiel darauf brennen, in das Vor-Corona-Leben zurückzukehren. Im Auftrag von Greenpeace befragte das Marktforschungsunternehmen Kantar/Emnid deshalb 1033 repräsentativ ausgewählte Personen. Ergebnis: Viele Menschen haben tatsächlich eine große Sehnsucht nach fundamentaler Veränderung.

Dieses Ergebnis nahm Greenpeace zum Anlass, der quantitativen Erhebung eine qualitativen folgen zu lassen. Nach dem ersten Lockdown Ende Mai 2020 startete die sogenannte Greenpeace Listening Tour, eine „Deutschlandtour“ des Zuhörens, um Menschen vor Ort nach ihrer Zukunftsvision für ein Leben nach Corona zu fragen. Das Setting: Ein drei Meter hoher Regenbogen aus Holz, der von Mai bis Juli 2020 durch insgesamt 37 Städte tourte. Ehrenamtliche der lokalen Greenpeace-Ortsgruppen fragten Passanten, was sie in der Zeit des erzwungenen Stillstands bewegt hat – und welche Zukunftsvision sie für das Leben nach Corona haben.

Einfach mal zuhören, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger belehren

Martini betont, es sei dabei nicht darum gegangen, dass die Passanten irgendeine von Greenpeace erwünschte Haltung einnehmen. Daher waren die Ehrenamtlichen waren neutral gekleidet, also ohne Emblem der NGO, um eine möglichst unvoreingenommene Begegnung zu ermöglichen. Sie wurden vorab in der Gesprächsführung geschult. „Es ging uns darum, dass sie tatsächlich nur zuhören – nicht versuchen, das Gegenüber vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, sondern herauszufinden, wo die Person steht. Ihr Raum zu lassen, Erlebtes zu teilen und eine Zukunftsvision zu formulieren.“

Mit einem großen Regenbogen tourte Greenpeace im Sommer 2020 durchs Land und horchte in die deutsche Öffentlichkeit; Foto: Jonas Wresch/Greenpeace

Einfach mal zuhören, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger belehren: Das klingt einerseits trivial – und ist in einer kontroversen, polarisierenden und verunsicherten Welt vielleicht doch ein innovatives Konzept?  Der Psychoanalytiker und Familientherapeut Michael P. Nichols beschreibt in seinem Buch „Die Macht des Zuhörens“, wie Missverständnisse, Vorwürfe und Frustration echte Kommunikation verhindern. Seine Botschaft: Erst durch achtsames Zuhören entstehen Nähe und Vertrauen – die Basis um sich gemeinschaftlich weiterzuentwickeln. Was für Paare, Freunde und Familie gilt, kann auch auf die Gesellschaft als Ganzes angewendet werden. „Allein indem man zuhört, Leute einfach mal reden und sich selbst Gedanken machen lässt, verändern sich Gedanken zu bestimmten Themen“, ist Greenpeacerin Martini überzeugt. Mindshifting wird dieses Konzept in der Soziologie oft genannt.

Die unfreiwillige Ruhe gab Gelegenheit für grundsätzliches Nachdenken

Doch was bewegt nun die Menschen während der globalen Ausnahmesituation? Es kamen kleine, alltägliche Dinge zur Sprache. Zum Beispiel haben viele der Passanten über ihre Ernährung gesprochen. Weil Restaurants und Kantinen geschlossen haben, musste man selbst kochen. Viele erzählten, sie hätten die Gelegenheit ergriffen, um vegetarische und vegane Rezepte auszuprobieren. Aber es ging auch um die ganz großen Fragen und Zusammenhänge. Die unfreiwillig verordnete Ruhe nutzen viele, um für sich selbst aber auch für die Gesellschaft zu überlegen, was wirklich wichtig ist.

Natur wurde neu erlebt. Weil man nicht ins Café gegen konnte, Kino und Theater geschlossen waren, nahmen Menschen ihre Umgebung mehr und anders wahr. Der Bewegungsradius wurde kleiner, aber das schärfte den Blick. Viele Leute erzählten, wie sie Natur genossen hätten; die saubere Luft, die weniger nach Abgasen roch und weniger von Auto- und Flugzeuglärm erfüllt war. Viele sprachen von ihrem Wunsch, dass das so bleibt und es kein Zurück gibt in das alte – sondern in ein neues, grüneres Normal.

Keine Frage: Die erzwungene Distanz setzt vielen Menschen zu. Gleichzeitig entstand im ersten Lockdown bei vielen ein Gefühl des Zusammenhalts, auch mit fremden Menschen. Viele wünschten sich, dieses Gefühl zu bewahren. Debattiert wurde auch über die Situation von Geflüchteten während der Pandemie. Über den Eingriff in Freiheitsrechte. Wie belastend es zum Teil wahrgenommen wird, das Gesicht der Mitmenschen durch die Teilverdeckung mit Masken nicht richtig erkennen zu können.

Mehr Klimaschutz, mehr nachhaltiges Wirtschaften

Jene Teilnehmer:innen, die Lust hatten, konnten die Quintessenz des Gesagten, ihre Wünsche und Visionen aufschreiben. Am Ende waren rund 1.500 Zettel an den Regenbogen geheftet. In der Gesamtschau steht weit oben auf der Wunschliste der Befragten: mehr Klimaschutz. Viele träumen von einer Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle bietet, in der menschliches Miteinander mehr zählt als Geld. In der anders als heute gewirtschaftet wird, ökologisch und nachhaltig; eine Welt in der Waren fair hergestellt werden. Auch die Arbeit soll sich ändern, Homeoffice weiter möglich sein. Viele träumen von einer Gemeinschaft, in der ein bedingungsloses Grundeinkommen soziale Sicherheit schafft.

Die Befragung liegt inzwischen einige Zeit zurück. Mit dem anstrengenden zweiten Lockdown, der Sorge um Virus-Mutationen und weiter unsicheren Zukunftsaussichten kann sich die Stimmung in der Bevölkerung inzwischen verändert haben. Dennoch zeigt sich, dass vieles von dem, was lange als unumstößlich galt, nun – nicht zuletzt durch Corona – tatsächlich hinterfragt wird. Andere Stadtlandschaften mit weniger Autos und mehr Grünflächen, anderes arbeiten, ein anderes miteinander: Viele dieser Wunschvorstellungen nach Veränderung scheint weit in große Teile der Gesellschaft vorgedrungen zu sein.

In 37 Städten machte die Greenpeace Listening Tour zwischen Mai und Juli 2020 Station; Foto: Jonas Wresch/Greenpeace

In ihrem Buch The Great Mindshift thematisiert Maja Göpel, wie die vorherrschenden Überzeugungen und Orientierungsmuster die technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Institutionen und Systeme prägen. So dominiert seit dem 19. Jahrhundert ein ökonomisches Mindset, das den Kurs hin zu „grenzenlosem materiellen Wachstum“ tief in die Gesellschaft eingebettet hat.

Einige Dinge lassen sich nicht durch allein durch Reden verändern: Für die Begrenzung von CO2-Emissionen braucht es klare gesetzliche Vorgaben. Aber die Frage, wie man viele Menschen dazu bewegt, andere Optionen überhaupt erst zu erwägen, anders zu reisen, zu arbeiten, zu leben, braucht es ein verändertes kollektives Mindset. Die Sehnsucht nach einem anderen Miteinander, mehr Klimaschutz, einem Wirtschaften im Rahmen der planetaren Grenzen, das bei der Greenpeace Listening Tour, aber auch anderen Erhebungen zutage tritt, ist wesentlich, um einen politischen Diskurs zu führen, der überhaupt erst zielführende Gesetzgebung ermöglicht.

Weniger belehren, mehr zuhören

Der Ansatz „mehr hinhören, was Bürger zu sagen haben“ wird möglicherweise die Arbeit von Greenpeace weiter verändern. „Ein Ehrenamtlicher hat von der Listening-Tour berichtet, wie überrascht er war, dass er durch bloßes Zuhören, sich besser an die Leute angenähert hat als mit reinen Inhalten und Fakten“, erzählt Martini. Nur ein einziges Mal habe ein Gespräch abgebrochen werden müssen, weil rechtsextreme Äußerungen geäußert wurden.

Heißt das, die Organisation will in Zukunft weniger oft mit dem Schlauchboot und dafür mehr mit einem offenen Ohr ausrücken? Soweit will Martini dann doch nicht gehen. Sie betont, dass es für jede Arbeitsform ihre Berechtigung gebe: den aufsehenerregenden und eher Konfrontativen Aktivismus, die konkrete Sacharbeit zur Aufklärung über Umwelt- und Klimathemen, sowie konstruktive Mitarbeit in Form von Gesetzesvorschlägen etwa zur CO2-Abgabe. „Die Mischung macht’s.“

Sicher ist indes: Aufgrund des überwiegend positiven Fazits zur deutschen Listening-Tour planen inzwischen auch Greenpeace-Sektionen in anderen Ländern wie Indien oder der Schweiz ähnliche Gesprächsformate zum Leben nach Corona.

Daniela Becker