Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), gegründet vor mehr als 50 Jahren, möchte seinen Auftraggeber in die Pflicht nehmen. Das siebenköpfige Gremium drängt die Bundesregierung dazu, in der Klima- und Umweltkrise Einfluss zu nehmen auf das Verhalten der Bevölkerung. Und im weiteren Sinne gilt der Aufruf dem ganzen Staat auf allen seinen Ebenen und mit all seinen Vertreter:innen. „Politik in der Pflicht: Umweltfreundliches Verhalten erleichtern“ lautet der Titel des am 9. Mai veröffentlichten Sondergutachtens.

Schon in den ersten Sätzen kommen die Mitglieder um die Vorsitzende Claudia Hornberg, Medizin-Professorin an der Universität Bielefeld, auf den Punkt: „Die vielfältigen Umweltkrisen unserer Zeit lassen sich nur bewältigen, wenn wir die Art und Weise verändern, wie wir leben – also wohnen, konsumieren, uns fortbewegen und ernähren.“ Es reiche nicht mehr aus, sich wie bisher auf die Förderung erneuerbarer Energien und umweltfreundlicherer Produkte zu konzentrieren. „Neben der Produktionsseite muss eine erfolgreiche Umweltpolitik auch das umweltrelevante Verhalten der Bevölkerung in den Blick nehmen“ und – wie es dann explizit heißt – „auf Veränderungen hinwirken“. Das ist eine Position, die einerseits lediglich den Stand der Forschung widergibt, andererseits in Politik und Öffentlichkeit für Irritation und Ablehnung, gar den Vorwurf von Ideologie sorgen dürfte.

Übermäßiger Zuckerkonsum erhöht das Krankheitsrisiko – in der Gesundheitskommunikation ist eine aktive Rolle des Staates seit langem akzeptiert. Geht es jedoch um Klimathemen, werden klare Aussagen oder gar Regeln von Kritikern häufig als übergriffig dargestellt; Foto: Carel Mohn

Anders als früher, sagt auch die für das Gutachten federführende Politik-Wissenschaftlerin Annette Elisabeth Töller von der Fern-Universität Hagen, müsse der Staat „anreizen und fördern, aber auch mal einfordern“, dass die Bürger:innen die Umweltpolitik durch ihre privaten Entscheidungen stützen und umsetzen – auch und gerade, wenn sich dadurch Alltagskonsum und private Investitionen ändern. „Nur Information und Förderung reichen dafür nicht aus.“

Tatsächlich bescheinigt das Gutachten den bisherigen politischen Maßnahmen in Sachen Umwelt- und Klimaschutz ein „unterkomplexes Verständnis des Verhaltens“. Dieses wird psychologischen Erkenntnissen zufolge einerseits durch eine Reihe von Einflussgrößen bestimmt, die unabhängig von der konkreten Entscheidungs-Situation sind: Dazu zählen zum Beispiel die persönlichen Werte und Normen, Merkmale der eigenen Identität und das Bewusstsein für die Folgen des eigenen Handelns für die Umwelt.

 

„Politik hat die Mittel, um umweltfreundliches Verhalten
zu erleichtern, anzureizen und teilweise auch einzufordern –
und steht in der Pflicht, hier aktiv voranzugehen“

SRU-Gutachten, Seite 17

 

Andererseits wirken in spezifischen Situationen Faktoren wie Routine, Emotionen und Einstellungen, soziale Normen und die mehr oder weniger ausgeprägte Überzeugung der Selbstwirksamkeit. Unter letzterem versteht die Wissenschaft das Gefühl, verändertes Verhalten ohne Überforderung selbst umsetzen und damit etwas bewirken zu können. Konkret gesagt heißt das zum Beispiel: Selbst wenn Menschen eigentlich klimaschonend zur Arbeit fahren wollen, hängt ihr tatsächliches Verhalten sehr stark vom Angebot an Öffentlichen Verkehrsmitteln ab, von der Atmosphäre in der Firma und wie stark zum Beispiel das Prestige an der Größe eines Dienstwagens gemessen wird oder davon, ob ein Mensch glaubt, er könne durch sein Verhalten einen Unterschied machen.

Die Vorschläge stoßen bei externen Fachleuten, die nicht dem SRU angehören, auf Lob: Die Arbeit sei „umweltpsychologisch gut informiert“, sagt Andreas Ernst, Psychologie-Professor von der Universität Kassel. Seine Kollegin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt bestätigt: „Der Ansatz ist absolut begrüßenswert und zielführend – das Gutachten basiert auf dem Grundsatz, dass menschliches Verhalten verstanden werden muss, um es zu verändern.“

„Häufig sind ‚Push‘-Maßnahmen wirksamer als ‚Pull‘-Maßnahmen“

Staatlicher Einfluss auf die Konsumentscheidungen der Bevölkerung kann in zwei Richtungen wirken: Sogenannte Pull-Faktoren ermutigen zu umweltfreundlichem Verhalten und erleichtern Entscheidungen dafür, während Push-Faktoren schädliche Handlungen erschweren. „Häufig sind ,Push-Maßnahmen‘ effektiver als ,Pull-Maßnahmen‘“, sagt Betsch. Erstere wirken allerdings auf viele Menschen eher wie ein Eingriff in die eigene Entscheidungsfreiheit, müssen also genauer erklärt werden. „Die Effektivität von ,Push-Maßnahmen‘ zu kommunizieren, kann helfen, deren Akzeptanz zu fördern“, so die Erfurter Forscherin.

Was das konkret bedeuten kann, erklären die Mitglieder des SRU in ihrem Gutachten an drei Fallbeispielen. Sie umfassen ein Spektrum von Alltagssituationen (Fleischkonsum) über Alle-paar-Jahre-Entscheidungen (Handy-Kauf) bis zu Einmal-im-Leben-Investitionen (energetische Sanierung des Eigenheims). Abseits dieser Beispiele bleiben die Empfehlungen des SRU allerdings eher allgemein, sowohl bei den Maßnahmen wie bei der Frage, wer sie beschließen und umsetzen sollte.

Bei der Ernährung könnte der Staat auf Kantinen und Gastronomie einwirken, vegetarische Gerichte attraktiver zu präsentieren. Das solle aber nicht als Veggie-Day geschehen, an dem ausschließlich Gemüse angeboten wird. Eine Möglichkeit ist ein sogenannter Klimateller, den zum Beispiel die Kantinen der Berliner Stadtreinigung anbieten. Das ließe sich laut SRU flankieren mit Ernährungsbildung in Schulen, der Angabe des CO2-Fußabdrucks auf Lebensmittelpackungen oder veränderten Sätzen der Umsatzsteuer: von sieben Prozent auf Null gesenkt für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, von 7 auf 19 Prozent erhöht für Fleischprodukte, die bekanntlich erheblich höhere Emissionen an Treibhausgasen verursachen. Ersteres wäre ein Pull-, zweiteres ein Push-Faktor.

Für Mobiltelefone empfehlen die Expert:innen ein Recht auf Reparatur, das die EU bereits in einer neuen Richtlinie vorsieht. Hilfreich wären auch ein Bonus-Angebot, also ein finanzieller Zuschuss für Reparaturen, wie ihn Österreich oder Thüringen eingeführt haben, oder andere finanzielle Anreize. Außerdem sollte in Zusammenarbeit mit Netzbetreibern die Kopplung „neuer Vertrag gleich neues Gerät“ aufweicht werden; bei einer Verlängerung könne man Bestandkund:innen auch den Einbau einer neuen Batterie oder eines neuen Bildschirms anbieten, schlägt der SRU vor.

Für die Sanierung eines Hauses solle die Politik One-Stop-Angebote einrichten, also lokal erreichbare Stellen, in denen Eigentümer:innen alles Nötige klären und in die Weg leiten können, statt viele verschiedene Behörden oder Stellen anlaufen zu müssen. Zudem sei es hier wichtig, staatliche Zuschüsse mit Vermögens- und Einkommensgrenzen zu versehen, damit weder soziale schwache Haushalte noch das Budget der Regierung überfordert werden. Den zweiten Teil dieser Empfehlung indes hat die Bundesregierung  beim Entwurf zum Gesetz über den Heizungstausch ignoriert, für die Beratungen im Bundestag arbeiten aber die Grünen und die SPD bereits an einer Änderung.

Wann der Staat auf das Verhalten der Bürger:innen einwirken sollte

Fünf Situationen nennt der SRU, in denen die Politik versuchen sollte, das Verhalten der Bevölkerung zu beeinflussen:

    1. Die erste Art von Situationen sind solche, in denen Zeitdruck herrscht (wegen jahrzehntelanger politischer Versäumnisse ist dies bereits für praktisch jede Frage mit Klimarelevanz gegeben).
    2. Der zweite Anlass ist gegeben, wenn Verbraucher:innen einen großen Hebel in der Hand halten: Die negativen Umweltwirkungen der Landwirtschaft könnten zum Beispiel durch verändertes Ernährungsverhalten schnell sinken.
    3. Der dritte Grund liegt vor, wenn eine Änderung des Verhaltens erwünschte Nebenwirkungen auslösen würde. So hätte weniger Autoverkehr in Städten den Co-Benefit, dass mehr Flächen begrünt werden oder auch die Unfallzahlen sinken können.
    4. Situation Nummer vier ist eine solche, in der eine Maßnahme der Politik verpuffen würde, wenn nicht viele Menschen gleichzeitig ihr Verhalten ändern. So müssen die Mobilfunk-Kund:innen ihre alten Geräte ja auch tatsächlich weiter nutzen wollen, damit staatliche Vorschriften für die Reparierbarkeit die gewünschte Wirkung erzielen.
    5. Ein Sonderfall dieser Ausweichreaktion liegt vor, wenn nach Einführung umweltfreundlicher Regeln im Inland Verbraucher:innen vermehrt billigere Waren aus dem Ausland kaufen. Das könnte zum Beispiel passieren, wenn strengere Regeln für das Tierwohl zu größeren Fleischimporten führen – dies ist die fünfte Art von Situationen, in denen der SRU zu einer Einflussnahme auf das Verhalten von Menschen rät.

Dabei soll der Fokus auf individuelles Verhalten keineswegs bedeuten, beeilen sich die Berater:innen zu betonen, dass nun den Bürger:innen die alleinige Verantwortung zugeschoben werden solle. „Aus Sicht des Sachverständigenrats für Umweltfragen sollte die Politik keinesfalls die Menschen und ihr Verhalten anstelle der Produktionsseite adressieren“, heißt es im Gutachten. Umweltfreundliche Entscheidungen zu treffen, werde den Menschen bisher oft schwergemacht. Der Staat müsse „ergänzend zu einer Regulierung der Produktionsseite“ die „Rahmenbedingungen für umweltfreundliches Verhalten“ verbessern. „Die Verhältnisse müssen sich ändern, damit sich das Verhalten ändert“ – so drückt dieses Prinzip zum Beispiel Michael Kopatz vom Wuppertal-Institut aus.

Zudem ist es den SRU-Mitgliedern sehr wichtig, die sozialen Folgen der nötigen Verhaltensänderungen mitzudenken und wo nötig wirksam auszugleichen. Ein Mittel dazu sei, den erwünschten Effekt mit einem Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen zu steuern. Staatliche Regulierung sei für viele in der Bevölkerung durchaus akzeptabel (auch wenn Kritiker oft anderes behaupten), sofern sie gut begründet, fair und effektiv ist, sagt SRU-Leitautorin Annette Elisabeth Töller. Gesetze und Vorschriften könnten zum Beispiel mit Angeboten zur Beratung und Förderung kombiniert werden. Bei diesem Punkt wird das Gutachten auch sehr praxisnah: Im Anhang gibt es eine tabellarische Auflistung von Leitfragen und Antworten, die Vertreter:innen des Staates dabei helfen sollen, einen jeweils wirksamen Mix von Maßnahmen zu finden.

Wie die Politik Konsumentscheidungen beeinflussen kann

Um das Verhalten der Bevölkerung zu beeinflussen, stehen dem Staat laut SRU auf drei Ebenen Ansatzpunkte zur Verfügung. Als erstes kann und sollte die Politik den Kontext verändern, in dem Entscheidungen getroffen werden – also in den Worten von Kopatz die Verhältnisse reformieren, die das Verhalten prägen. Dazu gehört es, Infrastruktur umzubauen – zum Beispiel mehr und sicherere Radwege zu schaffen –, Preisanreize zu setzen, Fördermittel bereitzustellen, aber auch Regeln aufzustellen (ob als Ge- oder Verbote), etwa zur Tierhaltung oder dem Dämmstandard von Häusern.

Die zweite Ebene sind Versuche, mittel- und langfristig auf persönliche Einflussfaktoren wie Werte und Normen, Identität und Umweltbewusstsein einzuwirken. Dem können Bildungsangebote sowie Kampagnen dienen, die Vorbilder herausstellen.

Die dritte Ebene wirkt in konkreten Entscheidungssituationen. Gezielt gegebene Informationen, wie zum Beispiel Angaben zum CO2-Fußabdruck auf Lebensmittelpackungen, können Menschen „an eigene Werte erinnern und diese nach außen sichtbarer machen“, wie es Cornelia Betsch ausdrückt. Den Verbraucher:innen kommt dann vor dem Supermarkt-Regal wieder ins Bewusstsein, dass sie ja eigentlich auf die Umweltwirkung der Produkte achten wollten, und sie bekommen die in diesem Moment relevanten Informationen dafür – durch Vorschriften, welche Informationen obligatorisch sind, und Standards, die diese verständlich machen, kann die Politik hier regulierend eingreifen. In solchen Fällen würde sich der Versuch, das Verhalten der Kund:innen zu beeinflussen, in Vorschriften für die Anbieter niederschlagen.

Solche Maßnahmen der dritten Ebene gehören zu den Instrumenten des Nudging (wörtlich übersetzt: anstupsen). Es setzt darauf, Entscheidungssituationen gezielt so zu gestalten, dass Menschen die individuell beste Wahl treffen, die oft auch Vorteile für die Gemeinschaft bietet. Dabei soll dem Konzept zufolge die volle Entscheidungsfreiheit gewahrt und erkennbar bleiben; und die eingesetzten Mittel müssen transparent sein. Im Gutachten heißt es zudem: „Die Anwendung von Nudges setzt voraus, dass zweifelsfrei gesagt werden kann, welche Verhaltensalternative aus Umweltsicht zu bevorzugen ist. Ist dies nicht der Fall, sind Nudges, die zu einer Verhaltensalternative verleiten sollen, nicht das geeignete Instrument.“

"... gerade weil es häufig politisch sehr kontrovers diskutiert wird ...“

Nudging im Besonderen, aber auch der generelle Ansatz, das Verhalten der Bevölkerung zu beeinflussen, dürfte bei vielen Parteien und Institutionen politische und rechtliche Bedenken auslösen. Der Sachverständigenrat habe sich das Thema vorgenommen, sagt die Vorsitzende, Claudia Hornberg, „obwohl und gerade weil es häufig politisch sehr kontrovers diskutiert wird“. Zu leicht kann hier das Handeln der Politik schließlich als Bevormundung dargestellt und als Eingriff in die Freiheit interpretiert werden. Bei der Diskussion über ein Tempolimit auf Autobahnen ließ sich das jüngst in Reinkultur verfolgen.

In dieser Grafik hat der SRU einige seiner Empfehlungen aus dem aktuellen Sondergutachten zusammengefasst, mit denen er den umweltpolitischen Wandel unterstützen möchte

Dennoch hält der Sachverständigenrat staatliche Einflussnahme auf das Konsumverhalten der Bürger:innen für legitim. Zunächst bescheinigen die vier Frauen und drei Männer den Kritikern politischer Eingriffe ein „verkürztes Verständnis von Freiheitsschutz und Konsumentensouveränität“. Nach den Grundsätzen des klassischen Liberalismus dürfe schließlich, „Freiheit nicht so ausgeübt werden, dass andere dadurch geschädigt werden“. Hemmungsloser Konsum und grenzenlose Mobilität aber schädigten Zeitgenossen fraglos. Sie legten insbesondere künftigen Generationen die Last auf, Umweltschäden zu ertragen oder mit deutlich größeren Einschränkungen ihrer Freiheit konfrontiert zu sein (sei es durch heftige Folgen der Klimakrise oder später umso schärfere Einschnitte bei Emissionen). Dieses Prinzip hat das Bundesverfassungsgericht im April 2021 in seinem Beschluss zur „intertemporalen Freiheitssicherung“ beim Gesetz zur Minderung von Treibhausgas-Emissionen ausformuliert.

Zudem ignorieren Kritiker, dass der Staat sowieso die Rahmenbedingungen des Verhaltens prägt – bisher jedoch „häufig unter Missachtung der ökologischen Folgen und mit entsprechenden Fehlanreizen“, wie es im Gutachten heißt. Als Beispiel nennen die Sachverständigen die jahrzehntelange Privilegierung des Autoverkehrs; ein weiteres ist die hierzulande im EU-Vergleich nur gering ausgeprägte Regulierung von Alkohol- und Tabakkonsum sowie Ernährung.

Jetzt umzusteuern, wird auf Widerstand stoßen, das ist dem Beratungs-Gremium klar. Doch viele Menschen befürworten als Staatsbürger:innen ökologisches Konsumverhalten, zeigen dieses aber als Verbraucher:innen weniger, stellt das Gutachten fest. Diese Lücke zwischen Anspruch und Verhalten sei ein „politischer Handlungsauftrag“ an den Staat. Den Auftrag anzunehmen und zu erfüllen, wollen die Mitglieder des SRU die Bundesregierung ermutigen.

Christopher Schrader