Nordrhein-Westfalen will sich gesetzlich verpflichten, bis 2050 „treibhausgasneutral“ zu wirtschaften. Die britische Aviva, eine der weltgrößten Versicherungsgesellschaften, verspricht bis 2040 „Nettonull-CO2-Emissionen“ aus seinen Investitionen. Mark Carney, ehemaliger Chef der britischen Notenbank und nun Klimaberater von Premierminister Boris Johnson, hat kürzlich sogar Investitionen des kanadischen Vermögensverwalters Brookfield in fossile Brennstoffe als „klimaneutral“ bezeichnet. Seine Argumentation: Der Investmentfonds (dessen Vize-Chef Carney ist) stecke auch viel Geld in Erneuerbare Energien, und das gleiche sich dann aus.

Von Sportgroßveranstaltungen bis zu Industrieprozessen: Immer häufiger wird irgendetwas mit Etiketten wie „CO2-neutral“ oder ähnlichen geschmückt. „Klimaneutral“, sei längst ein „Buzzword im fossilen Marketingsumpf“, urteilt Claudia Kemfert, Professorin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Mit dem Etikett werden Mogelpackungen verkauft, die uns von einer klimagerechten Welt mehr denn je entfernen. Wenn wir das Wort irgendwo hören, sollten wir sofort innehalten und das Kleingedruckte lesen.“

Inzwischen gibt es mehr als 30 verschiedene Begriffe und Bedeutungen

Das aber ist ein schwieriges Unterfangen. Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik schätzt, es gebe mittlerweile 30 verschiedene Arten von „Klimaneutralität“. „Meist verwenden die Sprecher den Begriff, wenn sie ‚Treibhausgas-Neutralität‘ meinen“, sagt er. Selbst in der wissenschaftlichen Debatte sei „Klimaneutralität“ nicht exakt definiert, „weshalb der Weltklimarat IPCC den Begriff wohl aufgeben wird“. Geden ist einer der Leitautoren des neuen, Sechsten Sachstandsberichts des IPCC, der in diesem und dem kommenden Jahr in mehreren Teilbänden erscheinen wird. Zu verworren, zu unscharf sei der Terminus.

Gemeinsam mit drei anderen Wissenschaftler:innen hat Geden kürzlich im Fachjournal Nature eine ausführliche Analyse zum Problem veröffentlicht. Ohne Klarheit bei den Begriffen, so ihre Warnung, könnten Klimazusagen verschiedener Staaten nicht verglichen und überprüft und auch nicht eingeschätzt werden, wie gerecht die Lastenverteilung zum Beispiel zwischen ärmeren und reicheren Ländern ist. So bestehe die Gefahr, dass die ganze Welt letztlich ihre Klimaziele verfehlt.

Die UN habe versäumt Treibhausgasneutralität zu definieren, beklagt Geden: „Regierungen jedenfalls finden die Mehrdeutigkeit gut.“ Einfach weil Mehrdeutigkeit Schlupflöcher biete. China zum Beispiel habe sich zum Ziel gesetzt, bis 2060 kohlendioxid-neutral zu werden. „Das bedeutet nicht klimaneutral, denn die anderen Treibhausgase neben CO2 sind ja nicht adressiert.“ Frankreich oder Finnland wiederum hätten das Ziel verkündet, bis 2050 kohlendioxid-neutral zu werden, „beide Länder meinen aber eigentlich, dass sie treibhausgas-neutral werden wollen“. Neuseeland wiederum habe in seinem Ziel formuliert, bis 2050 bestimmte Treibhausgase auf Null zurückfahren zu wollen. „Nicht aber Methan, ein 23-mal so intensives Treibhausgas wie Kohlendioxid“, erklärt Geden. In Neuseeland ist Schafzucht ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, Methan bildet sich im Verdauungstrakt der Tiere.

Das Teekesselchen-Spiel mit der „Klima-Neutralität“

Je genauer man hinschaut, desto komplizierter wird es. Denn nicht nur gibt es eine verwirrende Vielfalt von Begriffen – unklar ist auch, worauf sie sich jeweils beziehen. Jochen Luhmann vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie fühlt sich da oft an das Kinderspiel „Teekesselchen“ erinnert: ein Ratespiel zu Wörtern mit zwei Bedeutungen. „Bank“ zum Beispiel ist ein Teekesselchen - man kann sich draufsetzen oder sein Geld hinbringen.

Luhmann sagt: „Das Wort ‚klimaneutral‘ ist auch so ein Teekesselchen“. Mal nämlich wird der Begriff territorial verwendet und formuliert ein Reduktionsziel für einen Staat bzw. ein Staatsgebiet: Artikel 4.1 des Paris-Abkommens zum Beispiel gibt als Ziel an, die Welt solle in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine „Balance“ erreichen zwischen menschgemachten Treibhausgasen und sogenannten Senken, also Speichern von Treibhausgasen (als solche gelten zum Beispiel Böden, Wälder oder Moore). Zu diesem Gesamtziel müssen die Unterzeichnerstaaten beitragen – wenn sie ihre Pläne dazu an das UN-Klimasekretariat melden, dann berücksichtigen sie dabei Treibhausgase, die auf ihrem jeweiligen Territorium ausgestoßen oder auch in Wäldern gespeichert werden.

‚Balance‘ ist der Titel dieser Skulptur des Bildhauers Jerzy Kędziory, die nahe der nordpolnischen Stadt Bydgoszcz (deutsch: Bromberg) über dem Fluss Brda (Brahe) schwebt. Sie ruht tatsächlich nur auf einem Stahlseil. Das Klimasystem der Erde wieder in eine Balance zu bringen, ist auch das Ziel des Pariser Klimaabkommens - und aller Anstrengungen zum Klimaschutz; Foto: Nick Reimer

Um zum Teekesselchen zu kommen: „Konzerne zum Beispiel nutzen den Begriff ‚klimaneutral‘ anders“, erklärt Wuppertal-Experte Luhmann – nämlich bezogen auf ihren Verantwortungsbereich. Und der erstreckt sich, gerade bei Großunternehmen, oft über mehrere Staaten. In diesem Falle würden also auch „exterritoriale“ Emissionen betrachtet. Volkswagen zum Beispiel hat sich verpflichtet, bis 2050 "klimaneutral" zu werden. Importiert VW Autoteile aus Tschechien, dann muss sich der Konzern die dabei entstandenen Treibhausgase anrechnen – obwohl sie territorialstaatlich in der Tschechischen Republik entstehen. Das bedeutet, dass Volkswagen nicht nur in Deutschland in den Klimaschutz investieren muss, sondern überall auf der Welt.

Doch wie bei den verschiedenen Staaten, so herrscht auch bei Unternehmen ein wildes Durcheinander – Geden und seine Kolleg:innen nennen in ihrem Aufsatz auch dafür einige Beispiele: Der schwedische Möbelgigant Ikea zum Beispiel bezieht seine Ziele zur Emissionssenkung ausdrücklich auf die gesamte Lieferkette. Dasselbe gelte für Microsoft, wobei der Konzern bis 2050 sogar alles Kohlendioxid neutralisieren wolle, das seit Unternehmensgründung im Jahr 1975 emittiert wurde. Viel enger hingegen ziehe ACI Europe die Grenzen: Der Dachverband von mehr als 500 europäischen Flughafenbetreibern habe versprochen, bis Mitte des Jahrhunderts bei den Emissionen auf Netto-Null zu kommen – aber berücksichtige dabei lediglich den Kohlendioxid-Ausstoß aus Gebäuden und der Flugzeugabfertigung am Boden, klammere jedoch die Flugzeuge komplett aus. „So werden bloße zwei Prozent der Emissionen abgedeckt, die insgesamt durch den Betrieb dieser Airports entstehen.“

Ob die EU wirklich weiß, worum es geht, wenn sie von „klimaneutral“ spricht?

Der Begriff ‚klimaneutral‘ werde in der Regel falsch verwendet, sagt Wuppertal-Experte Jochen Luhmann: „Eigentlich ist meist ‚treibhausgasneutral‘ gemeint.“ Strenggenommen ist dieser Begriff etwas schwächer als „klimaneutral“. Luhmann: „Bei der Treibhausgasneutralität werden andere Klimaeffekte ausgeblendet.“

Der menschengemachte Klimawandel nämlich wird ja nicht nur von Treibhausgasen angetrieben – längst gibt es auch indirekte Mechanismen, beispielsweise den Albedo-Effekt. Unter „Albedo“ versteht man das Rückstrahlvermögen heller Oberflächen. Schnee und Eis zum Beispiel reflektieren Strahlungsenergie der Sonne zurück Richtung Weltall – schwinden diese hellen Flächen im Zuge des Klimawandels, beschleunigt sich die Erhitzung, weil die dunkleren Flächen zusätzliche Sonnenenergie absorbieren.

Deutschlands größter Gletscher zum Beispiel, der Schneeferner, bedeckte Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Ausdehnung von 300 Hektar noch das gesamte Zugspitzplatt. Heute messen seine Reste nicht einmal mehr 20 Hektar, womöglich schon 2030 wird er gänzlich geschmolzen sein. Hätte Deutschland als Ziel echte „Klimaneutralität“, müsste diese verschwundene Reflektionsfähigkeit irgendwie ausgeglichen, zum Beispiel an anderer Stelle ersetzt werden.

Aber gut, Deutschland will gar nicht klimaneutral werden: Das Bundes-Klimaschutzgesetz definiert als „Zweck dieses Gesetzes“, eine „Treibhausgasneutralität bis 2050“ herzustellen. Anders als die EU übrigens, die bis 2050 „klimaneutral“ werden will. (Wobei man vermuten darf, dass der enge Wortsinn den Verantwortlichen nicht wirklich bewusst war.)

„Treibhausneutral“, „CO2-neutral“, oder „klimaneutral“ – längst sind die Begriffe auch ein Instrument im (innen-)politischen Tauziehen. Bei den Beratungen zur Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) zum Beispiel forderten drei Fachausschüsse des Bunderates im Oktober 2020 eine – auf den ersten Blick – kleine Änderung an der Vorlage der Bundesregierung: In Paragraf 1 des EEG, wo dessen Ziel verankert ist, möchte die Regierung festschreiben, dass bis spätestens 2050 aller Strom in Deutschland „treibhausgasneutral“ erzeugt werden muss. Im Bundesrat wurde nun gefordert, dies durch die Wörter „ohne Treibhausgasemissionen“ zu ersetzen.

Das klingt nach einer Marginalie, doch es geht um viel: Das Wort „treibhausgasneutral“ ließe nämlich (theoretisch) auch 2050 noch die Erzeugung von Strom aus fossilen Brennstoffen zu, sofern im Gegenzug der Treibhausgasausstoß etwa durch Böden, Wälder oder Moore ausgeglichen oder durch neue Technologien wie beispielsweise das Abscheiden und Speichern von Kohlendioxid (CCS) wieder eingefangen würde. Eine Neuformulierung „ohne Treibhausgase“ hingegen würde dieses Schlupfloch schließen. Das Tauziehen um das neue EEG ist bis heute nicht abgeschlossen.

„Jedes Buch, jeder Kongress, jede Kreuzfahrt – heute ist alles ‚klimaneutral‘“, sagt Bernhard Pötter, taz-Journalist und Autor des Buches Die grüne Null, das im September erscheinen soll. Erreicht werde die (angebliche) Neutralität in der Regel weniger durch das Vermeiden von Emissionen, sondern durch Kompensationsgeschäfte. „Wer zum Beispiel ‚klimaneutral‘ Fliegen möchte, der lässt sich berechnen, wie viel Treibhausgase der Flug verursacht und zahlt bei einer Ausgleichsagentur dafür, dass an anderer Stelle diese Treibhausgase wieder eingespart werden.“ Der Anbieter Atmosfair zum Beispiel investiert in afrikanischen Ländern in effizientere Kochherde, in Solar- und Windkraft. 

Auch Wirtschaftsprofessorin Kemfert sieht Kompensationen kritisch: Sie erinnert an die vielen Versuche von Unternehmen, alte Technologien mit solchen Kompensationen grün zu waschen. „Wer wirklich etwas zum Klimaschutz betragen will, der sollte Treibhausgase sparen und definieren, wann er keine Treibhausgase mehr produziert“. Der Begriff „Klimaneutralität“ werde in der Wirtschaft „nicht selten nur als Alibi genutzt, um nichts zu machen“.

Doch die Unklarheit erstreckt sich sogar auf die Bündnisgrünen, vom eigenen Anspruch die Klima-Partei par excellence. In ihrem Programmentwurf für die Bundestagswahl verwendet sie 36 Mal das Wort „klimaneutral“ – aber ohne auch nur ein einziges mal zu definieren, was genau sie denn mit dem Begriff meint.

Nick Reimer/Toralf Staud