Kann man in 24 Stunden die Welt verbessern? Dies herauszufinden, haben am vergangenen Wochenende mehr als 6.000 Menschen in gut 110 Städten weltweit versucht. Von Sydney bis Honolulu, im Sudan ebenso wie in Sri Lanka nahmen sie am "Global Climathon Day" teil. "Climathon" ist die Kurzform von "Climate Hackathon" - also ein Veranstaltung von meist technikinteressierten Leuten (ursprünglich vor allem aus der Hacker-Szene), die gemeinsam Lösungen fürs Klima entwickeln.

Organisiert wurden die Events von Climate-Kic, jenem Arm des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts, der sich mit klimafreundlichen Konzepten etwa für Kommunen, Landwirtschaft oder Industrie befasst. Neun deutsche, fünf Schweizer und drei österreichische Städte hatten sich angemeldet. Es ging darum, "24 Stunden lang neu zu denken", wie es Vivienne Moise von Climate-Kic formuliert - und sich mit wildfremden Menschen auf den Weg zu machen, Lösungen für ein selbstgewähltes Problem zu finden.

Die wichtigsten Utensilien sind Memo-Tafel und Klebezettel

In Leipzig sind es rund 30 Leute, die an diesem Abend in die alte Baumwollspinnerei im Stadtteil Plagwitz kommen, überwiegend Junge, aber auch einige Ältere. "Wenn die Regierung nichts tut, um die Pariser Klimaziele einzuhalten, dann müssen wir es eben selbst tun", sagt Emily Bankert, die in Leipzig Geowissenschaften studiert. In einer hippen Fabriketage, wo sonst ein Ingenieurbüro arbeitet, gibt es nun drei "Challanges", aus denen die Teilnehmer eine auswählen können: Wie gelingt es, erstens, Klimaschutz in allen Generationen zum Thema zu machen? Zweitens: Wie kann man erreichen, den Stadtteil Plagwitz eine Woche lang autofrei zu machen? Und schließlich drittens: Wie schaffen wir es, Nachbarschaftsprojekte für den Klimaschutz anzuschieben?

Beim Leipziger Climathon, rechts Martin Jähnert, Geschäftsführer des lokalen Gastgebers; alle Fotos: Nick Reimer

Die 23-jährige Studentin Emily entscheidet sich für das Projekt "autofrei". Zuerst aber gibt es "Impulsreferate", es wird meist englisch gesprochen (viele Teilnehmer sind ausländische Studenten) und manchmal auch deutsch. Vor allem die Älteren melden sich bei der Frage, wer des Englischen nicht mächtig ist; einige im Publikum stellen sich spontan als Übersetzer zur Verfügung. Dann endlich hocken sich die frisch formierten Teams zusammen, die Leute stellen sich gegenseitig vor, analysieren das Problem und skizzieren erste Ideen. Und es kristallisieren sich auch schon die wichtigsten Utensilien des Climathons heraus: Memo-Tafel und Klebezettel.

Erfunden hat den Climathon das Europäische Innovations- und Technologieinstitut EIT, eine Gründung der EU mit dem Ziel, sogenannte Wissens- und Innovationsgemeinschaften zu fördern, die sich aus Universitäten, Start-ups und freier Wirtschaft bilden. Im Zeitraum 2014 bis 2020 stellt die Europäische Union insgesamt 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung, das Geld stammt aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon 2020, das Akteuren klassische Co-Finanzierung anbietet, in einigen Programmbereichen aber auch eine Komplettförderung. Im Klimabereich wird neben den Climathons etwa die Summer-School "The Journey" angeboten. Sitz des Instituts ist die ungarische Hauptstadt Budapest, es gibt nationale Außenstellen, in der deutschen mit Sitz in Berlin arbeiten beispielsweise 40 Menschen.

Mobilität war ein Thema, das viele Climathons beschäftigte

Für die Ausrichtung der einzelnen Climathons haben sich lokale Institutionen beworben, in Leipzig ist es die Schulungsfirma "Impact Hub" - "zum ersten Mal", wie Geschäftsführer Martin Jähnert verrät. So richtig weiß er anfangs noch nicht, was am Ende herauskommt. "Aber die Leute strotzen vor Ideen, das macht mir Mut!"

Am nächsten Tag treffen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer um 8.30 Uhr zum Frühstück –  nicht mehr alle kommen, vor allem die Älteren fehlen, ihnen ist vermutlich das Englisch der "Challenge" nicht geheuer. Nach einer kurzen Abstimmung über das weitere Vorgehen, schwärmt Emily mit ihrer Gruppe raus auf die Straßen von Plagwitz, um Anwohner zu befragen. Das Ergebnis überrascht: Ein Drittel gibt an, selbst kein Auto zu besitzen, ein Drittel, es im Stadtalltag so gut wie nie zu nutzen. Bleibt ein letztes Drittel, das darauf verweist, ohne Auto nicht über die Runden zu kommen, etwa um die Kinder zur Musikschule oder den Einkauf nach Hause oder die Großmutter zum Zahnarzt zu transportieren und all das zack, zack, zack, denn Zeit im berufstätigen Alltag ist knapp. Die Mehrheit immerhin steht einer autofreien Woche offen gegenüber, nach der Befragung zieht sich Emilys Gruppe in die Ideenschmiede zurück.

Die wohl wichtigsten Utensilien eines Climathons: bunte Klebezettel

"Mobilität ist tatsächlich ein Thema, dass sehr viele Climathons beschäftigt", sagt Vivienne Moise von Climate-Kic. In Wuppertal beispielsweise fragte sich am vergangenen Wochenende eine Gruppe, wie Konzertbesucher vom eigenen Auto auf das Öffentliche Verkehrssystem umgeleitet werden können. Im brandenburgischen Senftenberg entwickelte eine Gruppe eine App, die Daten von Bonusprogrammen wie zum Beispiel Bahncard, Tankkarten oder Payback zusammenführt – und die die preiswerteste und CO2-freundlichste Reiseart vorschlägt. Vivienne Moise: "In Berlin haben sich ein Drittel der 150 Teilnehmer zu Mobilitätsfragen angemeldet". Andere Themen waren zum Beispiel in Zürich die "Essbare Stadt", in Hamburg ein persönliches Treibhausgaskonto, in Graz der Umgang mit Verpackungsabfall.

"Egal, wo auf der Welt Du Dich befindest, die Probleme sind dieselben"

In Leipzig ist das Gelände der ehemaligen Spinnerei an diesem sonnendurchfluteten Nachmittag gut besucht von Passanten. Es gibt hier viele Ateliers, etliche Galerien, einen Biergarten. Die Leute schlendern und genießen den Herbsttag. Doch für all dies haben die "Climathonen" keinen Blick, hier geht es auf den Endspurt zu, jetzt wird am "Pitch" gearbeitet – wie im Werber- und Start-up-Jargon kurze  Präsentationen genannt werden. Denn eine der drei Gruppen wird am Ende von einer Jury zum Sieger bestimmt – und darf seine Ideen mit dem Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) weiterentwickeln.

Die Crew von "Autofreies Plagwitz" beginnt ihren Vortrag mit Fotos von autofreien Aktionen, Rollrasen auf der Straße, Straßencafés auf der Fahrbahn, eine Tischtennisplatte über dem Mittelstreifen oder Minigolf auf der ganzen Breite. Die Bilder sollen Lust machen auf autofreie Stadt, Lust auf Alternativen zur automobilen Welt. Um tatsächlich den Stadtteil eine Woche autofrei zu machen, will die Gruppe als erstes im kommenden Mai mit Fahrradverleihern eine "Free Cargo Week" organisieren: Velove oder das 2004 in Leipzig gegründete Nextbike sollen die Plagwitzer kostenlos in die Musikschule oder zum Zahnarzt kutschieren, den Einkauf transportieren oder die Anlieferung des Einzelhandels. "Für uns ein Katalysator: Wir wollen die Leute zum Nachdenken bringen", sagt Studentin Emily Bankert.

Und für einen autofreien Stadtteil begeistern. Die Gruppe schlägt als nächstes eine "Lange Nacht der Straßen" vor, dann schon organisiert von den Plagwitzern selbst, "denn eine autofreie Woche wird es nur geben, wenn die Plagwitzer es selbst wollen", so Bankert. Auch die Stadtverwaltung müsse ins Boot, etwa um den Durchgangsverkehr zu reduzieren. Und wenn das alles dazu führt, dass die Plagwitzer die Straßen ihres Stadtteils fußmobil zurückerobern, dass sie Gefallen an der Autoalternative finden, dann steht auch der autofreien Woche in Plagwitz nichts mehr im Weg – am besten während des Weltverkehrsforum der OECD, das im September 2020 dutzende Verkehrsminister nach Leipzig führen soll - "als weltweites Signal", wie Emily Bankert sagt.

Wie bekommen wir Plagwitz eine Woche autofrei? Darum ging es in der Gruppe von Emily Bankert (zweite von links);

Nach der Präsentation sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Ziel – geschafft, aber glücklich. Gewonnen hat letztlich eine andere Gruppe, die ein Konzept zur Bürgerbeteiligung beim energetischen Quartiertsmanagment ausarbeitete. Aber ganz so wichtig ist das Gewinnen bei diesem Marathon fürs Klima nicht: "Egal, wo auf der Welt Du Dich befindest, die Probleme sind überall dieselben", sagt Nickolas Tweel aus Charlottetown an der kanadischen Ostküste. Der 23-Jährige studiert Umwelttechnik an der Leipziger Universität, "Kommilitonen sind in den sozialen Medien auf den Climathon aufmerksam geworden, das hat mich interessiert."

"Wie Bürgerbeteiligung mit jungen Teams - nur besser"

"Der Climathon ist wie Bürgerbeteiligung mit jungen Teams, nur besser", urteilt Martin Jähnert, der lokale Veranstalter. Die "Challenge" habe geholfen, ein Thema "neu zu entdecken" - und es gebe interessierte Partner, die die Ergebnisse aufgreifen und in den nächsten Monaten mit den Teams umsetzen wollen: ein Ingenieurbüro, die Stadtverwaltung, der BUND. "Wenn die Leute sehen, dass ihre Ideen keine Eintagsfliege bleibt, dann motiviert das um so mehr!"

So war etlichen Beteiligten nach den zwei halben Tagen in der Baumwollspinnerei ein regelrechtes Glücksgefühl anzumerken. "Die Klimakatastrophe ist das Thema, zu der ich meine akademische Karriere aufbauen will", sagt etwa Friederike Eichborn, Umweltwissenschaftlerin aus Leipzig. Für die 30-Jährige ist Vernetzung wichtig, weshalb der Climathon eine gute Sache sei: "Du merkst einfach, dass du nicht allein bist – mit Deinen Sorgen, Deinen Hoffnungen, aber auch mit Deinen Ideen."

Fazit: Man kann in 24 Stunden vielleicht die Welt nicht verbessern. Aber der Climathon bietet in seinen 24 Stunden genug Gelegenheit, die Welt der Kämpfer für den Klimaschutz zu verbessern.

Nick Reimer