Die sozialwissenschaftliche Forschung rund um den Klimawandel wird nicht so gefördert, wie es mit Blick auf die Dringlichkeit der Klimakrise nötig wäre. Zu diesem Ergebnis kam im April 2020 eine Studie von Wissenschaftlern der University of Sussex und des Norwegischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (NUPI). Der Löwenanteil der Forschungsförderung fließe noch immer in naturwissenschaftliche Studien dazu, wie der Klimawandel funktioniere, erklärt einer der beiden Autoren, Indra Øverland – viel wichtiger jedoch wäre Forschung dazu, wie man ihn aufhalten kann beziehungsweise warum die Menschheit es bisher kaum tut.

Für ihre Studie analysierten die Autor:innen, wie weltweit mehr als 300 Institutionen der Forschungsförderung seit 1950 zusammen 1,3 Billionen US-Dollar ausgaben. Im Zeitraum von 1990 bis 2018 wurden demnach weniger als 4,6 Prozent aller Mittel für klimarelevante Forschung ausgegeben. Und bloße 0,12 Prozent flossen in Arbeiten zur Frage, wie man Gesellschaften verändern kann, um den Klimawandel abzuschwächen. In diesem Zeitraum erhielten die Natur- und Technikwissenschaften 770 Prozent mehr Mittel für die Forschung zum Klimawandel als die Sozial- und Geisteswissenschaften.

Finanzierung der Klimaforschung in den Natur- und Technikwissenschaften gegenüber den Sozial- und Geisteswissenschaften in US-Dollar. Die grauen Flächen stellen die Bereiche der Schätzungen dar, die aus verschiedenen Suchstrategien abgeleitet wurden; Quelle: Overland/Sovacool 2020

Zu den Ländern, die in absoluten Zahlen am meisten für sozial- und geisteswissenschaftliche Klimaforschung ausgegeben haben, gehören Großbritannien, die USA und Deutschland. Dennoch investierten auch sie zwischen fünf- und zwölfmal so viel in naturwissenschaftliche Klimaforschung. klimafakten.de hat die Studie zum Anlass genommen, die Lage hierzulande genauer zu betrachten – und mit Förderinstitutionen ebenso zu sprechen wie mit einigen renommierten Sozialwissenschaftler:innen.  

Indra Øverland, Leiter des Zentrums für Energieforschung am NUPI in Oslo, warf auf unsere Bitte einen genaueren Blick in die gesammelten Daten: „12,59 Prozent der deutschen Fördermittel für Klimathemen flossen in die Sozial- und Geisteswissenschaften, während 87,41 Prozent in die Natur- und Technikwissenschaften gingen“ – also etwa siebenmal so viel. Damit ist das Verhältnis der beiden Forschungsrichtungen in Deutschland geringfügig besser als im weltweiten Vergleich.

Die Studie betont, dass die sozialwissenschaftliche Forschung, darunter Fächer wie Anthropologie, Humangeographie, Politikwissenschaft, Psychologie sowie Wirtschaft, für die Eindämmung des Klimawandels unerlässlich sei. Deshalb müsse weltweit Forschungsfinanzierung transparenter und besser koordiniert werden.  Schlüsselfragen innerhalb der Sozialwissenschaften müssten priorisiert und die sozialwissenschaftliche Forschung insgesamt stringenter werden.

Sozialwissenschaftler:innen beklagen weiterhin ihre Rolle als Begleitmusik

Dass es eine erhebliche Kluft zwischen der offensichtlichen Relevanz sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und der tatsächlichen Forschungstätigkeit gebe, sei „seit langem bekannt und beklagt“, sagt. Anita Engels, Soziologieprofessorin an der Universität Hamburg und Vorstandsmitglied des Deutschen Klima-Konsortiums (DKK). Doch selbst sie zeigt sich nach der Lektüre der Studie „überrascht, wie gering der Anteil der sozialwissenschaftlichen Forschung ist“.

Auch Professor Ortwin Renn, Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam, wundert sich nicht über die Schieflage: „Die meisten Menschen denken, wenn sie an den Klimawandel denken, in erster Linie an die Naturwissenschaften, also Meteorologie und Ökologie. Die Sozialwissenschaften laufen unter ‚Die müssen wir ja auch noch irgendwie einbeziehen‘. Und dabei werden die Sozialwissenschaften oft auf Akzeptanzforschung verkürzt.“

Ökonomie-Professor Reimund Schwarze, der unter anderem die Arbeitsgruppe Klimawandel am Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig leitet, weist bereits seit zehn Jahren immer wieder auf die überproportionale Förderung der Naturwissenschaften in der Klimaforschung hin, sieht jedoch in den letzten Jahren „einige Verbesserungen“ in der Forschungsförderung. Diese sei allerdings noch immer von einer erstrebenswerten „Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ weit entfernt.

Sozialwissenschaftler beklagen, mit den Naturwissenschaften gebe es in der Klimaforschung keine Zusammenarbeit auf Augenhöhe - das Foto zeigt die Biblioteca Vasconcelos in Mexiko-Stadt; Quelle: Ziko van Dijk/WikimediaCommons

Auch Anita Engels stellt für die letzten zwei bis fünf Jahren „eine Aufwärtsbewegung“ der Sozialwissenschaften fest: Die Zahl der Einladungen zu sozialwissenschaftlichen Klima-Vorträgen auf großen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen sei „explosionsartig“ angestiegen. Presseanfragen an den interdisziplinären Hamburger Exzellenzcluster zur Klimaforschung bezögen sich zunehmend auf sozialwissenschaftliche Zusammenhänge. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhalte deutlich mehr sozialwissenschaftliche Anträge mit einem Bezug zum Klimawandel als noch vor fünf Jahren. Und in Beratungsgremien werde auf unterschiedlichsten Ebenen immer mehr Wert daraufgelegt, dass auch Expertise aus den Sozialwissenschaften repräsentiert ist.

Engels bleibt jedoch skeptisch: „Ich beobachte oft eine eher ritualisierte Bezugnahme auf die Sozialwissenschaften, wo ich eher eine vertiefte Auseinandersetzung wünschen würde. Es dominiert nach wie vor die Standarderwartung an die Sozialwissenschaften, dass sie instrumentell sind bei der Akzeptanzbeschaffung und als Transformationsbeschleuniger.“ Die komplexen Analysen, die überhaupt erst die Voraussetzungen für Akzeptanz und Transformationsfähigkeit beleuchten, würden gerne ausgeblendet.

Das Bundesforschungsministerium sieht bei sich keine Schieflage

Ein Sprecher des Bundesforschungsministeriums (BMBF) weist auf Anfrage darauf hin, dass sich die Øverland-Studie auf die wissenschaftliche Grundlagenforschung bezieht. So wurden etwa für Deutschland nur die Daten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Volkswagen-Stiftung ausgewertet. Nicht enthalten sind damit die Forschungsförderung zu Klimafragen etwa durch das Forschungs-, das Wirtschafts- oder das Umweltministerium und zahlreiche weitere Bundesressorts. Es fehlen außerdem die Daten der großen außeruniversitären Forschungsgesellschaften wie Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft und Max-Planck-Gesellschaft sowie der Ressortforschung und Forschungseinrichtungen der Bundesländer, so der Sprecher.

Doch selbst wenn genaue Daten für diese Bereiche fehlen mögen – ein tendenzielles Übergewicht der Naturwissenschaften springt auch dort schon beim flüchtigen Blick auf Publikationen und Websites der Institutionen ins Auge. Und auch andere Studien haben bereits den geringen Anteil der Sozialwissenschaften in der Klimaforschung belegt: Ein Team des Mercator Research Institutes on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin und der University of Leeds legte 2020 in Nature Climate Change eine gewaltige Literaturanalyse von rund 400.000 veröffentlichten Forschungsarbeiten zum Klimawandel vor – weniger als ein Zehntel davon stammten aus den Sozialwissenschaften (siehe Grafik).

Rund 400.000 Klimastudien, die zwischen 1985 und 2018 veröffentlicht wurden, hat ein deutsch-britisches Forscherteam als „Literaturlandkarte“ dargestellt. Arbeiten aus den Sozialwissenschaften sind orange dargestellt, sie machten 8,3 Prozent der Publikationen aus. Mit 62 Prozent dominierten die Naturwissenschaften, immerhin 22 Prozent machten die Ingenieur- und Technikwissenschaften  aus, auch die Agrarforschung lag mit gut zehn Prozent noch vor der Sozialforschung. Geradezu winzig war der Anteil medizinischer Arbeiten: 1,4 Prozent; Quelle: Callaghan et al. 2020

Das BMBF stellt für seinen Zuständigkeitsbereich dennoch keine Schieflage in der Förderung fest. Im Klimabereich werde vom Ministerium keine einzelne Disziplin gefördert, betont der Sprecher, sondern die Erforschung und Bewältigung konkreter, drängender Herausforderungen. Dazu gehörten Fragen, die eine integrative Beantwortung erfordern, wie etwa: „Mit welchen Klimafolgen müssen Kommunen und Landkreise rechnen, und wie können ihre Bürger und Institutionen sich darauf vorbereiten beziehungsweise anpassen?“ Oder: „Verändern Unternehmen, Branchen, Sektoren ihre Geschäftsmodelle, um klimaschützender zu wirtschaften, und wie kann staatliche Forschungsförderung sie dabei unterstützen?“ Oder: „Sind die derzeit diskutierten Optionen zur Erzeugung negativer Emissionen ökologisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich verantwortbar? Wie werden Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft darauf regieren, wie könnten sie betroffen sein?“

Das Forschungsministerium betont, dass es in den entsprechenden Förderbekanntmachungen den Nachweis einer intensiven und prinzipiell gleichrangigen interdisziplinären Zusammenarbeit verlange. Dieser sein ein „wesentliches Auswahl- und Finanzierungskriterium“, wobei den Begutachtungsgremien immer Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler angehörten.

Die DFG sieht Sozialwissenschaften in der Bringschuld

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) betont auf Anfrage, dass die Themen der von ihr geförderten Projekte „fast ausschließlich durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler je nach Forschungsbedarf“ gewählt werden. Mit Ausnahme der medizinischen Forschung verteilten sich die Bewilligungen in den Jahren 2017 bis 2020 „recht gleichmäßig über die verschiedenen Wissenschaftsbereiche“. Allerdings lasse sich die Summe der Bewilligungen für die sozialwissenschaftliche Forschung rund um das Thema „Klima" nicht feststellen, „da diese Zahlen schwer zu erheben sind“. Die Forschungsprojekte gingen häufig über mehrere Fächergrenzen hinaus. Eine Zuordnung sei „nur durch eine aufwändige händische Recherche“ möglich.

Jenseits der konkreten Zahlen sieht die DFG „sachlich nachvollziehbare Gründe“, warum der Anteil sozialwissenschaftlicher Forschung geringer ausfällt im Vergleich zu den Naturwissenschaften. In dem von der Studie betrachteten Zeitraum ab 1990 sei es zunächst hauptsächlich um die Identifizierung empirischer Belege zum Klimawandel gegangen, die Sozialwissenschaften seien erst später in die Diskussion eingetreten. In der Tendenz nehme die Förderung sozialwissenschaftlicher klimabezogener Forschungsthemen zu, die „vermeintlich ausgemachte Benachteiligung der Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften in der Förderung von Klimaforschung“ hält die DFG für „schwer zu belegen“. Überdies zeige die Studie ja auch, dass „auch die innerwissenschaftliche Orientierung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen selbst dazu beitragen kann, ihre Stärken in der Klimaforschung auszuspielen“.

Strukturelle Hürdenläufe

Dass es allein an ihnen liege, weisen die Sozialwissenschaften zurück. Reimund Schwarze verweist auf strukturelle Probleme in der Förderung. So betonten zwar die europäischen Green-Deal-Programme und die HORIZON-Forschung die Bedeutung der Verbindung von technik- und sozialwissenschaftlicher Forschung, trennten sie aber im Detail wieder streng: Die Cluster-Säulen des HORIZON-Programms unterscheiden nämlich klar nach Technik- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Die Idee, beides zu verzahnen, werde zwar eingefordert, aber „viel zu wenig“ praktiziert.

Bei der Erforschung der Klimakrise braucht es alle Disziplinen für den Blick auf das große Ganze. Der alte Lesesaal des British Museum in London; Foto: Diliff/WikimediaCommons

Sozialwissenschaftliche Forschung werde in der Programmforschung tendenziell im Verbund mit technik- und naturwissenschaftlichen Disziplinen angefragt, weiß die Wirtschaftssoziologin Anita Engels. „Hier ist es oft noch schwierig, in großen Verbünden auch eine genuin sozialwissenschaftliche Perspektive durchzuhalten.“ Sie sagt: „Forschungsfördereinrichtungen und Gutachter:innen erwarten oft die Bereitstellung von Lösungswissen, egal wie verwoben und konflikthaltig die Problemlagen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sind.“ Entsprechend seien aus sozialwissenschaftlicher Sicht „schon einige Abstriche vom fachinternen wissenschaftlichen Niveau“ zu machen, um sich diesen Erwartungen zu beugen. Zudem gebe es immer noch „zu wenige sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute in der außeruniversitären Forschungslandschaft, die dann auch die Chance haben, langfristig sichtbare Expertise aufzubauen“.

Silo-Denken überwinden

Wichtige Fragestellungen kämen dabei zu kurz, finden Renn und Schwarze. Ortwin Renn vermisst mehr sozialpsychologische Forschung: „Dass man versteht, wie Menschen sich verhalten, was sind die Ursachen, Motivationen dafür? Auch sei es schwer, Geldgeber für die Erforschung soziopolitischer Fragestellungen zu institutionellen Rahmenbedingungen zu finden, die sich mit Anreizsystemen und bürokratischem Handeln befassen. In Zeiten einer „krisenhaft zugespitzten Klimawandellage“ sieht Reimund Schwarze die aktuellen Herausforderungen in der Bewältigung der vom Klimawandel verursachten Krisen und Migration, aber auch der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft bei der Adressierung von Klimathemen.

Nicht einmal spektakuläre Wetterextreme wie im Sommer 2021 die historischen Hitzerekorde in Nordamerika oder die Starkregenkatastrophen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen werde die Forschungsdiskussion stärker in Richtung Resilienz und Klimaanpassung verschieben, gibt sich Reimund Schwarze ernüchtert: „Diesen blinden Fleck sehe ich seit langem und überall, wie aktuell im EU Green Deal.“ Um das Silo-Denken zu überwinden, plädiert Schwarze dafür, die Forschungscommunities zu diesen Themen bereits im Vorfeld solcher Programme stärker zu beteiligen. Ortwin Renn sieht es ähnlich: „Es ist sehr schwer, interdisziplinäre Forschungsvorhaben umzusetzen.“ Das FONA-Programm des BMBF sei zwar gut, doch die Deutsche Forschungsgesellschaft sowie Förderprogramme von Stiftungen seien „noch sehr stark dem Disziplinären verhaftet“.

Christiane Schulzki-Haddouti