Louisa Schneider ist Klimajournalistin und steht gerade auf der Bühne des Theatersaals des Augustinum Heidelberg, einer Wohneinrichtung für gut betuchte Senioren. Die Stimmung im Publikum beschreibt sie als freudig gespannt – so als würden die Menschen, die im Saal sitzen, auf die Aufführung eines klassischen Theaterstücks warten.
Schneider betritt die Bühne, hinter ihr eine Leinwand, auf der ein Video läuft. Dort ist zu sehen, welche Orte sie für ihre Show bereist hat. Das Publikum sieht Bilder vom brennenden brasilianischen Amazonas-Regenwald, dem grönländischen Eisschild und dem von Dürre betroffenen Senegal in Westafrika. Dazu läuft Musik – es ist wie bei einem Kino-Besuch. In den folgenden zweieinhalb Stunden berichtet Schneider in ihrer Grad°Jetzt-Show über Klima-Kipppunkte und erzählt Geschichten von betroffenen Personen. Ihr gehe es darum, sagt sie, „Menschen in einen Raum oder Moment zu holen, wo sie die Realität förmlich spüren können.“ Das merkt Schneider auch nach der Show: Das Publikum muss seine Emotionen erstmal verarbeiten. Schneider berichtet von Tränen, aber auch davon – dass Menschen sich motiviert gefühlt hätten, sich im Klimaschutz zu engagieren oder weiterzumachen.

Louisa Schneider steht bei ihrer Live-Show Grad°Jetzt im Veranstaltungssaal des Augustinum Heidelberg. Ihre Shows sind öffentlich, eingeladen sind also nicht nur die Bewohnerinnen der Einrichtung. Foto: Oliver Matlok
Das Format von Schneiders Show, die übrigens von Greenpeace unterstützt wird, könnte man als Live-Journalismus einordnen. Ein junges Genre, maßgeblich geprägt in den 2010er-Jahren vom US-amerikanischen "Pop-Up Magazine" in Los Angeles. Die Grundidee: Im Live-Journalismus präsentieren Journalistinnen und Journalisten sorgfältig vorbereitete Geschichten in einem Theater oder Klub einem direkt anwesenden Publikum. Dabei werden die Geschichten mit theatralischen Elementen versehen. Laut der Webseite des Live Journalism Network ist das Genre eine Erweiterung traditioneller Erzählformate ohne die Beschränkung auf eine Zeitungsseite oder einen O-Ton.
Als "Live-Journalismus" wird eine neue erzählerische Form des Journalismus bezeichnet, bei der Journalistinnen und Journalisten, oft in einem Theater oder einem Klub, sorgfältig vorbereitete und bearbeitete Geschichten vor einem Präsenz-Publikum präsentieren. (The Power of Live Journalism: A Handbook; 2023)
Kernmerkmale im Unterschied zu anderen journalistischen Formaten und zu herkömmlichen Theaterproduktionen sind:
- theatralische Elemente sind in die Präsentation der Geschichten mit eingebaut;
- es findet ein persönlicher Austausch mit dem Publikum in Echtzeit und im selben Raum statt;
- Journalistinnen und Journalisten präsentieren die von ihnen recherchierten Geschichten, die Inhalte werden also nicht von Schauspielerinnen und Schauspielern wiedergegeben.
Zu Vorreitern im Live-Journalismus zählen:
- Pop-Up Magazine (USA)
- Black Box (Finnland)
Aktuelle Projekte im deutschsprachigen Raum:
Einer der europäischen Vorreiter des Live-Journalismus ist die Show "Black Box", die von der größten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat seit 2016 produziert wird. Im Zuge der Show entstand 2023 ein Handbuch zu Live-Journalismus. Darin wird als Alleinstellungsmerkmal dieses Formats beschrieben: Eine Geschichte wird präsentiert und mit dem Publikum in Echtzeit interagiert. Es ist möglich, dem Publikum Fragen zu stellen und einen offenen sowie persönlichen Dialog zu führen.
Dazu kommen weitere Möglichkeiten, die dem Live-Journalismus kaum Grenzen setzen: Fotos, Videos, Animation, (Live-)Musik – beinahe alles kann zur Unterstützung verwendet werden. Mit diesen vielen unterschiedlichen Varianten lässt sich Nähe zum Publikum herstellen – etwas, das im Klimajournalismus besonders wichtig ist, sind doch seine Themen oft schwer greifbar. Die Klimakrise kann vielen Menschen daher als weit weg erscheinen [mehr zur sogenannten psychologischen Distanz in Kapitel 8 unseres Handbuchs „Über Klima sprechen“]. Durch den direkten Austausch mit dem Publikum kann der Live-Journalismus die Klimakrise in deren Realität holen. Dafür eignen sich Geschichten, die im lokalen Umfeld des Publikums passieren.
Klimajournalismus im Live-Format
Calle Fuhr bringt ebenfalls Klimajournalismus auf die Bühne. Der Autor, Regisseur und Speaker hat für das Stück "Die Redaktion" am Volkstheater in Wien mit der Redaktion von Dossier zusammengearbeitet, einem gemeinnützigen Medium, das investigativen Journalismus betreibt. In Die Redaktion wird die Geschichte der Recherchen zu dem teilstaatlichen österreichischen Mineralölkonzern OMV erzählt.

Das Ensemble von Die Redaktion auf der Bühne des Volkstheaters in Wien; Foto: Marcel Urlaub/Volkstheater
Fuhr nennt seine Arbeit „Recherche-Theater“. Er gestaltet einen Theaterabend und verwendet journalistische Recherchen als Ausgangspunkt dafür. Zuletzt lief am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg das Stück Atlas unter seiner Regie, dabei arbeitete er mit der Klima-Redaktion von Correctiv zusammen. Diese Art des Theaters unterscheidet sich von herkömmlichen Theater-Produktionen, bei denen meist ein einzelner Autor das Stück schreibt.
Bei der Produktion von Die Redaktion war das anders. Die Herausforderung bestand zunächst darin, erzählt Fuhr, sich tief in einen Stoff einzuarbeiten, der sich vor allem in zahlreichen nüchternen, aus Theaterperspektive spröden Zeitungsartikeln verbarg. Im Anschluss traf er sich mit dem Dossier-Journalist Ashwien Sankholkar, der zur OMV recherchiert. Fuhr stellte Sankholkar seine verbliebenen Fragen und hatte schließlich eine Unmenge an Material zusammengetragen. Es stellten sich dadurch andere Fragen, die bei einem fiktiven Stoff weniger im Mittelpunkt stehen, so Fuhr: „Was kann ich weglassen? […] Was für Situationen finde ich, wo all diese Fakten unterhaltsam und zugänglich beackert werden können?“ Ähnliches berichtet auch Louisa Schneider: „Zunächst ist es wichtig, eine klare Kernbotschaft zu definieren: Was soll das Publikum am Ende mitnehmen? Dabei sollte man vermeiden, die Geschichte mit zu vielen Details zu überladen und sich auf die wesentlichen Aspekte konzentrieren.“
„Themen auf fesselnde Weise vermitteln, die über reine Fakten hinausgeht“
Gelingt das, kann Live-Journalismus das richtige Format für eine Klima-Geschichte sein. Warum? „Weil er die Themen auf eine unmittelbare, emotionale und fesselnde Weise vermittelt, die weit über reine Fakten hinausgeht“, sagt Schneider. Mit der Auswahl einer konkreten Geschichte wird die Distanz zum Klimawandel kleiner, werden dessen Folgen verständlicher. Beispielsweise erzählt Schneider in ihrer Show von jenen Menschen, die bereits heute stark von der Klimakrise betroffen sind. Sie erzählt unter anderem von einem Schamanen der indigenen Yanomami im Regenwald oder dem Mitgründer von Fridays For Future Senegal.
Fuhr schlägt in dieselbe Kerbe: „Über die Bühne können wir der Problematik des Hyper-Objekts ganz gut ein Schnippchen schlagen, weil es im Theater ja immer um ein kollektives Erleben geht. Da sehe ich einen großen Vorteil.“ Der Begriff Hyper-Objekt stammt von dem Philosophen Timothy Morton. In diesem Kontext meint ein Hyper-Objekt ein Phänomen, das vertraut und fremd zugleich ist. Der menschengemachte Klimawandel ist für uns Menschen des globalen Nordens ein Beispiel dafür: Wir wissen darüber Bescheid – doch schwerer treffen die Konsequenzen Menschen aus Ländern des globalen Südens, weit weg von uns.
Interaktion mit dem Publikum
Der wohl größte Vorteil des Formats Live-Journalismus ist der direkte und persönliche Austausch mit den Menschen vor Ort. Zwar gibt es Live-Formate beispielsweise auch im Fernsehen und über soziale Medien, doch gelingt über einen Bildschirm nicht die räumliche Verbundenheit. „Live-Journalismus lädt das Publikum ein, Fragen zu stellen, mitzufühlen und sich mit dem Thema zu verbinden. Das ist essenziell, um nicht nur zu informieren, sondern auch zum Handeln zu inspirieren“, hebt Louisa Schneider den Austausch mit dem Publikum hervor.

Live-Journalismus: Die Journalistin steht auf der Bühne und erzählt ihre Geschichte dem Publikum, unterstützt durch eindrucksvolle Bilder; Foto: Oliver Matlok
Bei den finnischen Black Box-Shows wurde das Publikum mittels Fragebogen während der Pausen und danach befragt, was für sie die Show ausmacht. Und einer der wesentlichen Aspekte ist die Möglichkeit, sie mit den Darstellerinnen und Darstellern im selben Raum zu erleben. Das weckte beim Publikum ein Gefühl der Zusammengehörigkeit: Sie fanden Freude daran, dass sie auch unter anderen Menschen waren, die hochwertigen Journalismus erleben wollten. Live-Journalismus macht sich damit einen Vorteil zunutze, den auch digitale und soziale Medien mit sich bringen: die Schaffung einer Gemeinschaft. „Man ist nicht nur Zuschauer, sondern Teil der Geschichte – sei es durch direkte Ansprache, interaktive Elemente oder durch das unmittelbare Miterleben von Orten und Ereignissen“, erklärt Schneider.
Achtung, Falltür!
Ein Format mit so vielen Möglichkeiten bringt aber auch Stolperfallen mit sich. Eine intensive Vorbereitung im Live-Journalismus ist daher Pflicht. Der Aufwand für eine ein- oder zweistündige Show mit multimedialen Elementen unterscheidet sich erheblich vom klassischen Nachrichtenbeitrag für TV, Radio oder Print. „Die Inhalte müssen faktisch korrekt, aber auch dramaturgisch durchdacht sein“, erklärt Schneider. „Also wie baue ich die Show auf, welche Höhen und Tiefen habe ich? Soll es auch mal witzig werden?“
Louisa Schneider setzt dabei auf einen Mix aus traurigen und hoffnungsvollen Geschichten. Dazu kommen Interviews und immer wieder die Verknüpfung von lokalen Stories zur globalen Klimakrise. In diesen Spannungsbogen baut Schneider auch Humor als Ausgleich ein, dabei setzt sie vor allem auf Situationskomik und lustige Szenen in den eingespielten Videos. Denn wenn von Zerstörung, Ungerechtigkeit und Verlust gesprochen wird, sollte man darauf achten, das Publikum nicht zu überfordern. Es braucht ein Gespür dafür, das Publikum im richtigen Moment aufzuheitern – und wann es in Ordnung ist, wieder emotional zu werden.
Der große Unterschied zum herkömmlichen Journalismus: Live-Journalismus ist ein Show-Format. Das heißt: Die große Kunst ist es also, das Publikum während der gesamten Aufführung zu unterhalten. Es gibt nur einen begrenzten Raum für trockene Fakten, meist muss man an der Oberfläche bleiben, kann nicht in die Tiefe gehen. Im Live-Journalismus besteht also die Gefahr, dass tiefe Zusammenhänge und wissenschaftliche Details zu kurz kommen.

Die Schauspielerin Gerti Drassl im Stück Die Redaktion; Foto: Marcel Urlaub/Volkstheater
Auch die Interaktion kann zur Herausforderung werden: Denn der Austausch mit dem jeweiligen Publikum ist nicht vorhersehbar. Sie müsse natürlich, erzählt Schneider, auch mit negativem Feedback umgehen können. „Wenn unter hundert Leuten eine Person eine Kritik hat, weil ihm oder ihr dein Outfit nicht gefallen hat“, berichtet sie. „Oder mir wurde dann schon mal gesagt, ich sei zu emotional, sei zu viel, ich sei unauthentisch.“. Hier sind die präsentierenden Personen gefordert: Sie müssen auf das Feedback des Publikums flexibel reagieren können und bei Kritik souverän und selbstbewusst auftreten.
Eine Klimageschichte im Live-Journalismus-Format zu erzählen, fordert Journalistinnen und Journalisten heraus. Doch die Mühe lohnt sich. Fuhr beschreibt das so: „Im Theater genießen wir den Luxus ungeteilter Aufmerksamkeit. Sich dann nur einem Aspekt zu widmen, ist schon eine riesige Aufgabe. Sich dieser Aufgabe präzise, lustvoll und mit offenem Herzen zu verschreiben, kann für ein Publikum bereits die Welt bedeuten.“