Auf den ersten Blick fällt das Wortspiel kaum auf: "For Seasons" hieß das Stück, das am vergangenen Samstag in der Elbphilarmonie in Hamburg uraufgeführt wurde - eine Abwandlung von "Four Seasons", dem englischen Titel der Violinkonzerte von Antonio Vivaldi. Und hübscherweise funktioniert das Wortspiel auch bei einer Übersetzung ins Deutsche: Aus "Vier Jahreszeiten" wird "Für Jahreszeiten", also für die gewohnten Wetterverhältnisse - und gegen den Klimawandel.

Vivaldis "Vier Jahreszeiten" aus dem frühen 18. Jahrhundert gehören wohl zu den weltweit bekanntesten Stücken klassischer Musik. Jedes der vier kurzen Violinkonzerte ist das musikalische Porträt einer (mitteleuropäischen) Jahreszeit - die Instrumente spielen mal sanfte Winde, mal Stürme, mal Regengepladder, mal Vogelgezwitscher, mal eine herbstliche Jagd.

Quer über die Bühne der Elbphilarmonie hing am Samstagabend dieses Spruchband: "Wir haben alles über den Klimawandel gehört - jetzt ist es Zeit hinzuhören"; Foto: Screenshot forseasonsbydata.com

Ein Team aus Wissenschaftlern, Sound Artists, Musik-Arrangeuren und anderen hat in sechsmonatiger Kleinarbeit die Erderhitzung in das Originalwerk eingearbeitet. Auf der Basis realer Klimadaten wurden Details geändert: Weil zum Beispiel die Sommer länger und heißer geworden sind, wurde das Sommerkonzert in die Länge gezogen und langsamer gespielt. Weil die europäische Vogelpopulation in den vergangenen drei Jahrzehnten um rund 15 Prozent geschrumpft ist, wurden in den Vogel-Passagen von Vivaldis Werk ebenfalls 15 Prozent der Noten gestrichen. Und so weiter. Globale wie lokale Daten flossen in die Bearbeitung ein, beispielsweise zu Temperaturveränderungen, der Verschiebung von Vegetationsphasen oder der Zunahme von Wetterextremen.

"Wir nutzen unsere Kunst, um den Klimawandel hörbar zu machen"

Das entstandene Werk sei "nicht bequem, fällt stetig mehr aus der ursprünglichen musikalischen Proportion und Balance und liefert auch kein Happy End", betont das NDR-Elbphilarmonie-Orchester. "Vielmehr macht das neue Werk die Dringlichkeit der Lage erlebbar und lässt den Hörer wortlos fühlen, was die Fakten zeigen: Das Klima und unsere Jahreszeiten sind aus dem Gleichgewicht geraten." "Herausgekommen ist ein durchaus hörenswertes Stück, was am Anfang noch etwas an Vivaldi erinnert, am Ende aber eher an die Musik gemäßigter Neutöner wie Arvo Pärt oder Alfred Schnittke", urteilt der Rezensent von Spiegel Online.

Ein Video-Mitschnitt der 45-minütige Aufführung vom Samstag ist auf der Projektwebsite verfügbar:

"Mit ,For Seasons´ nutzen wir Musiker unsere Kunst, um den Klimawandel einer breiten Öffentlichkeit hörbar zu machen", bringt Chefdirigent Alan Gilbert die Idee des Konzerts auf den Punkt. Die Adaption des Vivaldi-Klassikers mache deutlich, dass bei fortschreitender Erderhitzung "nichts bleibt wie es immer gewesen ist", ergänzt Solo-Cellistin Yuri Christiansen. "Das Resultat – Not, Chaos und Durcheinander – ist hörbar und auch körperlich erlebbar, denn die Musik macht ja etwas mit uns, wenn wir sie hören."

Toralf Staud